Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Vom Netzwerk:
reizbar.«
    Es muß ungefähr fünfzehn Jahre her sein, seit ich ihn das letztemal gesehen habe. Die Oper hatte ihm in der Store Kannikestræde eine Ehrenwohnung gegeben. Er saß in einem Sessel, der zum Flügel hingerückt war. Er war im Schlafrock, ich hatte ihn noch nie anders gesehen. Seine Waden waren nackt und geschwollen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch aufstehen konnte. Er muß über 150 Kilo gewogen haben. Alles an ihm hing. Er sah mich an, nicht Moritz. Unter den Augen hatte er nicht bloß Säcke, sondern Kojensäcke.
    »Ich kann Frauen nicht leiden«, sagte er. »Rück weiter weg.«
    Ich rückte weg.
    »Als kleines Mädchen warst du niedlich«, sagte er. »Die Zeit ist vorbei.«
    Er signierte ein Plattencover und reichte es Moritz.
    »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Du denkst, jetzt hat der alte Idiot noch eine Platte gemacht.«
    Es waren die Gurrelieder . Die Platte habe ich noch. Es ist immer noch eine unvergeßliche Aufnahme. Ab und zu habe ich mir gedacht, daß der Körper, unsere physische Existenz an sich, dem Schmerz, den ein Gemüt ertragen kann, eine Grenze setzt. Und daß Victor Halkenhvad auf der Platte bis an diese Grenze geht. So daß wir anderen hinterher zuhören und die Reise mitmachen können, ohne selbst so weit gehen zu müssen.
    Auch wenn man wie ich nichts von europäischer Kulturgeschichte weiß, hört man, daß in der Musik, auf der Platte, eine Welt untergeht. Die Frage ist nur, ob etwas an ihre Stelle getreten ist. Das meinte Victor nicht.
     
    Ich habe in meinem Tagebuch nachgesehen. Es ist jetzt alles, was ich noch an Gedächtnis habe. Dein letzter Besuch ist zehn Jahre her. Laß mich erzählen, daß ich Alzheimer habe. Selbst ein Gelddoktor wie Du weiß wohl, was das bedeutet. Jeder neue Tag reißt einen Bissen aus meinem Gehirn. Bald kann ich mich Gott sei Dank nicht einmal an euch erinnern, die ihr mich alle und euch selbst verraten habt.
     
    Es war seine Gleichgültigkeit. Er sang, bebend, dem Bersten nahe, unerträglich von der Romantik und deren Gefühlen erfüllt, zugleich aber war da auch ein großer Überblick, war irgend etwas in ihm, das sich um alles einen Dreck scherte.
     
    Jonathan und ich waren zusammen auf dem Konservatorium. Wir kamen '33 rein. Das Jahr, in dem Schönberg zum Judentum konvertierte. Das Jahr des Reichstagsbrandes. Jonathan war auch so. Verdammt schlechtes Timing. Er komponierte ein Stück für acht Querflöten und nannte es ›Silberpolypen‹. Mitten in der miefigen dänischen Nachkriegsborniertheit, die selbst einen Carl Nielsen zu provozierend fand. Er schrieb ein geniales Konzert für Klavier und Orchester. Dem Flügel mußten sie altmodische Eisenkochplatten auf die Saiten legen, weil das einen ganz speziellen Ton gab. Es wurde nie aufgeführt, nie, nicht ein einziges Mal. Er heiratete eine Frau, von der selbst ich kaum etwas Unvorteilhaftes sagen konnte. Sie war Anfang Zwanzig, als sie den Jungen bekamen. Sie wohnten in Brønshøj, in einem Viertel, das es nicht mehr gibt. Wellblechgartenschuppen. Ich besuchte sie dort. Jonathan verdiente keine müde Mark. Der Junge war total vernachlässigt. Durchlöcherte Klamotten, rote Augen, kriegte nie ein Fahrrad, wurde in der Proletenschule des Viertels verprügelt, weil er vor Hunger so schwach war, daß er sich nicht verteidigen konnte. Weil Jonathan ein großer Künstler sein wollte. Ihr habt eure Kinder alle im Stich gelassen. Und das muß euch eine alte Tunte wie ich erzählen.
     
    Der Mechaniker ist an die Seite gefahren, um zuhören zu können. »Die Blechbuden in Brønshøj«, sagt er. »An die erinnere ich mich. Die lagen hinter dem Kino.«
     
    Er ließ die Verbindung abreißen. Ich hörte, daß sie irgendwann nach Grönland gegangen waren. Sie hatte Arbeit als Lehrerin angenommen. Versorgte die Familie, während Jonathan für die Eisbären komponierte. Nach ihrer Rückkehr habe ich sie einmal besucht. Der Sohn war auch da. Schön wie ein Gott. Eine Art Wissenschaftler. Kalt. Wir sprachen über Musik. Er fragte die ganze Zeit nach Geld. Dauergeschädigt. Wie Du selber, Moritz. Zehn Jahre lang hast Du mich nicht besucht. Hoffentlich erstickst Du in Deinem Vermögen. Diese beharrliche Verbissenheit, auch an dem Jungen. Wie Schönberg. Die Zwölftonmusik. Reine Verbissenheit. Aber Schönberg war nicht kalt. Der Junge war Eis. Ich bin müde. Ich habe angefangen, ins Bett zu pinkeln. Kannst Du es ertragen, Dir das anzuhören, Moritz? Dich erwischt es auch einmal.
     
    Der Brief

Weitere Kostenlose Bücher