Peter Hoeg
über mich hinweg zu dem Mechaniker.
»Na, Meister?«
Ich stecke den Kopf durch das Fenster und in den Streifenwagen.
»Wir wohnen in einer Einzimmerwohnung, Herr Kommissar. Einer Kellerwohnung in der Jægersborggade. Wir haben drei Kinder und einen Hund. Ab und zu braucht man ein bißchen Privatleben. Und kosten darf es auch nichts. Also fahren wir hier raus.«
»Okay«, sagt er. »Aber fahren Sie mit Ihrem Privatleben woandershin. Das hier ist ein Botschaftsviertel.«
Sie fahren. Der Mechaniker läßt den Wagen an und legt den Gang ein.
Da geht in dem Haus vor uns das Licht aus. Der Mechaniker fährt langsamer. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern fahren wir im Schneckentempo die Allee entlang. Drei Gestalten treten auf die Treppe heraus. Zwei davon sind dunkle Punkte in der Nacht. Doch die dritte wendet sich instinktiv zum Licht. Ich sehe einen Pelz, ein weißes Gesicht, das das Licht einfängt. Es ist die Frau, die ich bei Jesajas Begräbnis mit Andreas Licht habe reden sehen. Sie wirft den Kopf zurück, und die dunklen Haare gleiten in die Nacht. Jetzt, wo ich die Bewegung wiederholt sehe, sehe ich auch, daß sie nicht Eitelkeit, sondern Selbstbewußtsein ausdrückt. Eine Garagentür geht auf. In einer Lichtflut kommt das Auto heraus. Scheinwerfer fegen über uns hin, dann ist es weg. Hinter ihm gleiten die Türen langsam zu.
Wir liegen hinter dem Auto. Nicht zu dicht. Denn die Allee ist öde, aber auch nicht sehr weit weg.
Wenn man in der Dunkelheit durch Kopenhagen fährt und der Umgebung erlaubt, an Kontur zu verlieren und zu verschwimmen, tritt ein neues Muster zutage, das dem Blick, der scharf einstellt, nicht sichtbar ist. Die Stadt ist wie ein bewegliches Lichtfeld, wie ein über die Netzhaut gezogenes Spinnennetz aus Weiß und Rot.
Der Mechaniker fährt entspannt, fast in sich gekehrt, als sei er kurz vorm Einschlafen. Er macht keine plötzlichen Bewegungen, bremst nicht hart. Es ist kein eigentliches Stärkeaufgebot, nur ein Fließen durch die Straßen und deren Verkehr. Irgendwo vor uns liegt die ganze Zeit wie eine breite, niedrige Silhouette das Auto, das uns führt.
Der Verkehr wird spärlicher und hört zuletzt ganz auf. Wir fahren Richtung Kaianlage Kalvebod Brygge. Wir kommen auf den Damm, ganz langsam und ohne Licht. Ein paar hundert Meter vor uns, auf dem Kai, gehen ein paar rote Rücklichter aus. Der Mechaniker parkt an einem dunklen Bretterzaun. Die relative Wärme des Meeres hat einen Dunst entstehen lassen, der das Licht des Raumes aufsaugt. Die Sicht beträgt vielleicht hundert Meter. Die andere Seite des Hafens ist im Dunkeln verschwunden. Die Dünung schlägt mit langgezogenem Schlurfen an die Mole.
Und plötzlich eine Bewegung. Kein Laut, sondern die schwarze Kristallisation eines Punkts in der Nacht. Ein Feld von Schwärze, das sich systematisch zwischen den geparkten Autos bewegt. Fünfundzwanzig Meter vor uns hört die Bewegung auf. Vor einem hellen Kühlanhänger steht ein Mensch. Über der Gestalt schwebt eine Erhellung, wie ein weißer Hut oder ein Glorienschein. Die Unbeweglichkeit dauert lange. Der Dunst verdichtet sich etwas. Als er lichter wird, ist die Gestalt verschwunden.
»Er h-hat die K-Kühlerhauben angefaßt, um zu fühlen, ob sie heiß sind.«
Er flüstert, als könnte seine Stimme in die Nacht hinaus reichen.
»Ein vorsichtiger M-Mann.«
Wir sitzen still und lassen die Zeit durch uns hindurchgehen. Trotz des Ortes, trotz des Unbekannten, auf das wir warten, ist sie für mich wie ein Strom aus Glück.
Nach seiner Uhr vergeht vielleicht eine halbe Stunde.
Wir hören das Auto nicht. Es kommt mit gelöschten Scheinwerfern aus dem Nebel und fährt an uns vorbei. Das Geräusch ist nur ein leises Zischen. Die Scheiben sind dunkel.
Wir steigen aus dem Auto und gehen zum Kai. Die schwarzen Konturen, die mehr zu ahnen als zu sehen waren, sind Schiffe. Das nächstgelegene ist ein Segelschiff. Die Gangway ist eingezogen, es liegt im Dunkeln. Eine weiße Platte am Oberbau zeigt auf deutsch an, daß es sich um ein polnisches Schulschiff handelt.
Das nächste ist ein schwarzer, hoher Rumpf. Mittschiffs führt eine Aluminiumtreppe an Bord, doch alles wirkt öde und verlassen. Das Schiff heißt Kronos. Es ist vielleicht 125 Meter lang.
Wir gehen zum Auto zurück.
»Man sollte vielleicht an Bord gehen«, sagt er.
Den Beschluß muß ich fassen. Einen Moment lang fühle ich mich versucht. Dann folgen die Furcht und die Erinnerung an das Brandprofil der Nordlicht
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