Pfad der Schatten reiter4
ihn auf einem Turnier gewonnen, als er in Clays Alter war, noch ein junger Mann und ein Bogenschütze in Lord Mirwells Bürgerwehr. Er war der Beste gewesen. Als er später aus dem Dienst ausschied, hatte er den Bogen zur Jagd benutzt und Clay beigebracht, wie man sich im Wald verhält und Beute nachstellt. Galen strich sich mit der Hand über die Augen, als er sich an die schöne Zeit erinnerte, die er mit seinem Sohn im Wald verbracht hatte.
Clay war zu einem guten Mann und hervorragenden Spurenleser herangewachsen. Er folgte den Fußstapfen seines Vaters und trat der Bürgerwehr bei. Alles wäre gut verlaufen, aber dann schlug Lord Mirwells versuchter Staatsstreich fehl, und Clay versteckte sich mit seinem Hauptmann in den Hügeln
von Teligmar. Hauptmann Immerez . Und dann die Verschwörung zur Entführung von Lady Estora. Warum hatte Clay sich nur in all das hineinziehen lassen?
Das letzte Bild seines Jungen, das er erhascht hatte, bevor der Leichenbestatter den Sargdeckel zunagelte, war Clays aufgequollenes, geschwärztes Gesicht mit der geschwollenen Zunge, die zwischen seinen Zähnen hervorragte, und sein von der Galgenschlinge verwüsteter Hals. Zumindest hatte er ein anständiges Begräbnis bekommen. Dank dem Fremden, der Galen das Silber gegeben hatte, war Clay ehrenhaft auf einem Friedhof unweit des Gasthofes beerdigt worden. Er hatte sogar einen Grabstein: Clay Miller, geliebter Sohn von Galen und Rosaline.
Durch den Verkauf seines alten Maulesels und Karrens besaß Galen nach der Beerdigung noch genügend Geld, um den Speicherraum im Gasthof Hahn und Henne mit seinem strategisch hervorragend gelegenem Ausblick zu behalten und überdies den Kräutersammler für das bittere Kraut zu bezahlen, das er kaute, um sein Zittern zu beruhigen.
Manchmal hatte er allerdings aufgrund dieses Krauts Wachträume, Albträume, in denen er seinen Jungen vor sich sah, wie er am Galgen baumelte – nicht den erwachsenen Mann, sondern den blonden Knaben von etwa zehn Jahren, mit strampelnden Beinen und schwingendem Körper, dessen Todeskampf vom Hohngelächter der Menge quittiert wurde, die sich versammelt hatte, um ihn sterben zu sehen. In diesen Halluzinationen kämpfte Clay so lange, bis er sich nicht mehr bewegte und nur noch das Seil am Galgenbalken leise knirschte.
Schon bei der Erinnerung an diese Visionen begann Galen, erstickt zu schluchzen. »Mein Junge, mein Junge …« Morgenglocken läuteten in der Ferne, ein heller Kontrapunkt zu seiner finsteren Trauer.
Sein einziger Trost waren sein Langbogen, seine Pfeile und die Dinge, zu denen er mit ihrer Hilfe fähig war. Von Rechts wegen hätte der Bogen seinem Sohn vererbt werden sollen, aber nun konnte Galen ihn nur noch benutzen, um seinen Sohn zu ehren. Er würde die Straße weiterhin überwachen und bald Frieden finden.
DIE MELODIE DES WALLS
»Anscheinend starrt er gern Mauern an.«
»Du hättest ihn letzten Herbst sehen sollen, da hat er den ganzen Tag nur den Wall angestarrt.«
Alton verdrehte die Augen und fragte sich, warum er Dale und Estral eingeladen hatte, ihn auf seinem Ausflug zu begleiten, wenn sie die ganze Zeit über nichts anderes taten, als sich über ihn lustig zu machen. Gerade betrachtete er den Wall am Erdturm, der genau wie der Himmelsturm und die acht anderen Türme einen Teil des D’Yer-Walles bildete. Er hatte Kontakt zu allen Magiern hergestellt, die wie Merdigen innerhalb der Türme existierten, mit Ausnahme von Haurris, der für den Erdturm verantwortlich war. Selbst die anderen Magier konnten ihn nicht erreichen, und obwohl Alton sich bemühte, konnte auch er sich keinen Eintritt in den Turm verschaffen. Merdigen hatte gesagt, dass sie, was Haurris anging, mit dem Schlimmsten rechnen müssten.
Was wäre wohl »das Schlimmste« für eine unkörperliche Projektion von jemandem, der vor über tausend Jahren gelebt hatte? Überhaupt nicht mehr zu existieren, nahm er an. Er zuckte die Achseln, denn derartige Fragen gehörten in den Bereich der Philosophie, und er hatte im Moment keine Lust, sich mit dergleichen zu beschäftigen.
Er drückte seine Hand fest an den Wall und fühlte die kalte, klumpige Struktur des Granits unter seiner Handfläche. Die Wallhüter sangen ihr übliches Lied und leisteten ihm keinen
Widerstand; sie schienen auch nicht alarmiert zu sein, weil irgendetwas mit dem Turm nicht stimmte, dennoch konnte er nicht eintreten. Dale hatte es ebenfalls versucht, und das Ergebnis war dasselbe gewesen.
Es gab
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