Pfad der Schatten reiter4
verhangenen, von Schatten verhüllten Ort nicht einmal die Sonne oder die Sterne sehen, um sich zu orientieren. Sie glaubte dann, dass sie alle sterben würden, unrettbar verirrt in der verfilzten Wildnis des Waldes. Vielleicht würden sie tatsächlich sterben. Ihre Überlebenschancen waren nicht hoch, selbst wenn es ihnen gelang, die Straße wiederzufinden.
Sie achtete streng darauf, den anderen ihre Zweifel nicht zu zeigen. Das durfte sie nicht. Sie musste sie alle zusammenhalten.
Die anderen glaubten fest an sie, glaubten, dass sie sie heil durch alle Gefahren führen würde. Aber wenn sie zusammenbrach, würden sie ebenfalls zusammenbrechen, also trug sie eine Maske der Zuversicht, obwohl das eine Lüge war.
Sie betrachtete ihr müdes Gefolge. Nun waren es nur noch fünf. Fünf, und dazu ihre treue Enkelin Lala, die auf einem glitschigen Baumstamm saß und mit Garn spielte. Lala beklagte sich niemals, sie war unerschütterlich und vertraute ihrer Großmutter blind.
Um die Straße wiederzufinden, musste Großmutter die Kunst anwenden, und zwar bald, bevor die Angst ihre Leute überwältigte. Aus dem Körbchen, das sie am Handgelenk trug, nahm sie ein Knäuel aus rotem Garn und schnitt mit dem Messer, das von ihrem Gürtel hing, etwas davon ab. Ihre Finger waren kalt und steif, dennoch bewegten sie sich flink, um die Knoten zu knüpfen, und während sie das tat, sprach sie Worte der Macht.
Innerhalb des Schwarzschleiers ging sie vorsichtig mit der Kunst um. Der Äther dieses Ortes war unbeständig, besudelt, und konnte sogar die einfachste Beschwörung verfälschen. Das hatte sie auf drastische Weise erfahren, als sie versucht hatte, ein gewöhnliches Lagerfeuer zu entfachen, indem sie den Zunder mit der Macht berührte. Ein Baum neben ihr war explodiert und hätte fast ihre Röcke angesengt. Glücklicherweise war der Wald so feucht, dass sich die Glut nicht zu einem richtigen Waldbrand entwickelt hatte, aber danach griff sie nicht mehr auf Magie zurück, außer wenn es darum ging, einen Schutz zu errichten oder den Weg zu finden, und auch dann tat sie es nur ungern.
Als sie die Knoten geknüpft hatte, hauchte sie sie an, und sie zogen sich aus eigenem Antrieb enger zusammen, verflochten und verwoben sich zu einer einzigen Masse, die sich in einen glühenden Salamander verwandelte, der auf ihrer Handflache
saß. Sie wusste, dass ihre Leute immer noch nichts anderes sahen als ein verknotetes Stück Garn.
»Finde den Weg«, befahl sie dem Salamander, denn er war ein Kompass.
Er betrachtete sie mit Augen aus Kohle und wippte mit seinem schlangenartigen Schwanz hin und her, bis er sich für eine Richtung entschied; sein Schwanz wies ihr den Weg. Die anderen sahen wahrscheinlich nur ein loses Stück Garn, das sich im Luftzug bewegte.
»Wir müssen weiter«, sagte Großmutter zu ihren Leuten. »Wir müssen unsere Reise fortsetzen. Auch Regin hätte das gewollt.«
Rasch nahmen sie ihre Reisesäcke auf, einige von ihnen mit Tränen in den Augen. Sie teilten Regins Gepäck unter sich auf und ließen seine persönlichen Gegenstände, die sie nicht brauchen konnten, zurück. Dann wandte sich Großmutter um und schritt vorsichtig durch den Wald. Sie folgte der Richtung, die der Schwanz des magischen Salamanders ihr wies.
Im Nu war Lala neben ihr und ergriff ihre freie Hand. Großmutter lächelte zu ihr hinunter. Durch Lala fand sie die Kraft weiterzugehen – und natürlich durch ihre feste Überzeugung, dass sich das Reich wieder erheben musste.
Nachdem sie sich ein, zwei Stunden lang durch dichtes Unterholz geschlagen und schlammige, zäh fließende Bäche durchwatet hatten, fanden sie die Straße. Der Salamander hatte sie treu geführt. Alle dankten Großmutter und Gott mit lauten Stimmen. Nun entließ Großmutter den Salamander in den Wind, und er verschwand in einem kurzen, grellen Aufblitzen. Erst, als sie alle sicher auf dem nassen, moosbewachsenen Kopfsteinpflaster standen, schloss die die Augen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Ihre Erleichterung gipfelte in einem Freudenschrei, als die
kreisenden Nebel vor ihnen eine große Steinfigur enthüllten. Diese Statue, ein Abbild Mornhavons des Großen, markierte den Ort, an dem die Kreise der Wege zusammenkamen. Wie es sich herausstellte, hatte der Salamander sie mehr als treu geführt.
Die Straßen, über die sie gingen, waren nicht von Arcosiern gebaut worden, sondern von den Eletern Argenthynes, lange vor Mornhavons Ankunft. Als
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