Pfad der Schatten reiter4
sobald sie die Weite des Umlandes erreicht hatten, den Hengst durch sämtliche Gangarten treiben und dabei frei sein würde, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, frei zu denken, an wen und was er wollte, ohne dass ihn jemand unterbrach oder irgendetwas von ihm erwartet wurde.
»Hauptmann?«
Laren wandte sich um und entdeckte Ben Simeon, der auf sie zukam. Er hatte seinen Heilerkittel ausgezogen und trug wieder Reiterkleidung.
»Hallo Ben, hast du heute Nachmittag eine Reitstunde?« Nicht, dass es ihm je gelungen wäre, tatsächlich ein Pferd zu besteigen. Pferdemeisterin Riggs stand vor einem Rätsel und wusste nicht, wie er je seine Angst überwinden sollte.
»Ja«, sagte er bedrückt. Er sah müde aus, und seine Wangen waren bleich.
Sie erriet den Grund und fragte: »Wie geht es dem Kastellan?«
Bens Gesicht hellte sich auf. »Er ruht sich aus. Ich glaube, ich habe den Bruch wieder zusammengefügt. Die restliche Heilung hängt nun von ihm ab, aber er hat jetzt die Hüfte eines Zwanzigjährigen.«
»Du meine Güte!« Als sie zusammen zu den Reiterställen gingen, dachte Laren, dass die Gabe der wahren Heilung von allen Reiterfähigkeiten die wunderbarste war. Bevor er den Ruf der Reiter vernommen hatte, war Ben zum Heiler ausgebildet worden, und sie nahm an, dass seine frühere Schulung seine magische Fähigkeit steigerte, und dass umgekehrt seine frühere Ausbildung durch seine magische Fähigkeit vertieft wurde.
Natürlich war Ben im Lazarettflügel sehr gefragt, und Meister Destarion freute sich bestimmt, dass Ben mit Pferden nichts anfangen konnte. Laren befürchtete, dass Ben sich allzu sehr verausgabte. Wenn man seine Fähigkeit einsetzte, hatte das immer seinen Preis – einen Preis, den sie täglich in ihren Gelenken spürte. Sie nahm an, dass Ben wahrscheinlich einen noch höheren Preis bezahlte. Aus seinem ausgemergelten Äußeren schloss sie, dass er zu viel von sich selbst, von seiner eigenen Essenz hergab, um andere zu heilen. Sie musste später unbedingt mit Destarion darüber sprechen und inzwischen hoffen, dass es unter ihren neuen Reitern noch einen weiteren wahren Heiler geben würde.
Galen Miller kaute das Kraut, das ihm der Kräuterhändler gegeben hatte, und die Wundbläschen, die sich in seinem Mund gebildet hatten, brannten. Er brauchte immer mehr Kraut, um sein Zittern halbwegs zu beherrschen, aber oft bekam er davon fiebrige Schweißausbrüche, und er nahm die Wirklichkeit nur noch verschwommen wahr.
Manchmal wachte er morgens auf und sah den König vor sich, ganz in Schwarz gekleidet, genau wie seine Wachsfigur, die im Kriegsmuseum von Sacor-Stadt stand. Er hatte diese Wachsfigur genau studiert, um den echten König zu erkennen, sobald er ihn sah.
Doch in seiner Vision überragte ihn der König turmhoch,
und neben ihm hing unbewegt und fest eine Henkersschlinge, deren Schatten sich pechschwarz von der Wand im Hintergrund abhob.
Hast einen Verräter großgezogen, was ?, erklangen die plumpen Worte, die aus dem Mund des Königs kamen, aber nicht zu ihm zu gehören schienen.
»N-nein«, stotterte Galen dann, »einen guten Jungen. Clay war ein guter Junge.«
Dann schwebte der König vor ihm, und Galen wand sich vor Entsetzen auf seiner Pritsche, bis er wieder zu sich kam. Er durfte nicht mehr so viel von dem Kraut nehmen, nur genug, um seine Hände ruhig zu halten.
Anhand der Kerben, die er in die Deckenbalken seiner Dachstube geschnitzt hatte, wusste er, dass heute die Tagundnachtgleiche war. Allmählich fragte er sich, ob nicht alle seine Pläne sinnlos waren und sein Junge womöglich nie gerächt werden würde. Selbst mit den zusätzlichen Münzen, die ihm der Fremde vor Wochen geschenkt hatte, reichte sein Geld vielleicht nicht einmal, um sein Zimmer im Gasthof so lange zu behalten, bis der König endlich geruhte, seine Burg zu verlassen.
Mit zitternden Händen ergriff Galen seinen Becher, schlürfte das abgestandene Wasser und bemerkte gar nicht, dass er seine Brust bekleckerte. Als er fertig war, stellte er den Becher neben sein kostbares Kräuterbündel und ein kleines Fläschchen, das er ebenfalls dem Kräuterhändler für ein hübsches Sümmchen abgekauft hatte. Es enthielt den Abschluss seines langen Wartens.
Einer Eingebung folgend hatte er vor zwei Tagen einen winzigen Teil der kostbaren Flüssigkeit auf die mit Widerhaken versehenen Spitzen der beiden Pfeile geträufelt, die neben dem Fenster bereitlagen. Jeweils nur einen einzigen Tropfen. Der
Weitere Kostenlose Bücher