Pfad der Schatten reiter4
Kräuterkundige hatte behauptet, dass das Gift wochenlang
wirksam bleiben würde. Er wollte das Überleben seiner Beute absolut ausschließen. Er würde nur einen Pfeil brauchen, der zweite war lediglich eine Sicherheitsvorkehrung. Ja, sein Junge würde seine Rache bekommen.
Er stand von seiner Pritsche auf, durchquerte den Raum und setzte sich auf das Fensterbrett, wobei er sich an den Fensterflügel lehnte. Er starrte auf die Straße hinunter und setzte die Wache fort, die er vor so vielen Wochen begonnen hatte.
Er war eingedöst, als ihn das Hufgetrappel mehrerer Pferde weckte, die die Straße herunterkamen. Als die Reiter in Sicht kamen, schlug Galens Herz schneller.
Sein langes Warten war vorbei.
ÄQUINOKTIUM
Estora hielt Zacharias nicht für eine impulsiven Menschen. Sonst hätte er sich nicht so lang als König gehalten. Sein Bruder Amilton war das genaue Gegenteil gewesen, denn er hatte all seinen Impulsen sofort nachgegeben. Das hatte ihn den Thron gekostet. König Amigast hatte ihn zugunsten von Zacharias übergangen. Daraufhin hatte Amilton sich bemüßigt gefühlt, einen Aufstand gegen seinen Bruder anzuführen, worauf er ins Exil geschickt und schließlich getötet worden war.
Estora schätzte Zacharias’ Bedachtsamkeit, auch wenn er dadurch manchmal vielleicht allzu hart arbeitete, und deshalb war sie überrascht und entzückt, als er an diesem Nachtmittag alle seine Termine absagte und sie einlud, mit ihm auszureiten. Natürlich war nicht nur sie zugegen, sondern außerdem diverse Höflinge, ihr Vater und Richmont. Außerdem natürlich die Waffen, die Falkner und mehrere Diener. Gardisten eilten vor ihnen her und sorgten dafür, dass die Straße frei war. Estora winkte den Leuten zu, die zusahen, wie der König mit seinem Gefolge vorbeiritt, und ihnen zujubelten.
Estora hatte keine Ahnung, weshalb Zacharias so plötzlich beschlossen hatte, sich den Nachmittag freizunehmen, statt zu arbeiten, denn er vertraute ihr nur selten seine Gefühle an, und sie hoffte, dass sich dies ändern würde, sobald sie verheiratet waren. Vorerst war sie damit zufrieden, neben ihm herzureiten und davon auszugehen, dass ihn lediglich die Verheißung
des Frühlings dazu verlockt hatte, seine dunklen Steinmauern hinter sich zu lassen. Sie selbst hatte jedenfalls genug von den Entbehrungen des Winters.
Sie warf ihrem zukünftigen Ehemann, der auf seinem Hengst saß, einen Seitenblick zu. Im Augenblick war er tief in Gedanken versunken, und sie hatte keine Ahnung, wohin sie ihn entführt hatten. Der Wind zerzauste sein Haar, und über sein Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns, das allzu schnell wieder verschwand.
Anscheinend hatte er ihren Blick gespürt, denn er wandte sich um und sah sie an. »Was ist, meine Herrin?« »Ich habe mich gefragt, wohin Eure Gedanken wohl reisen.«
»Weit über den Horizont hinaus«, sagte er. »An zu viele Orte, um sie alle aufzuzählen.«
Sie waren nun in der Unterstadt und ritten durch ein Armenviertel. Immer noch säumten jubelnde, winkende Untertanen den Straßenrand, aber hier waren es viel weniger, und sie sahen schäbiger aus. Andere drückten sich in Torbögen oder düsteren Vorplätzen herum und beobachteten die vorbeireitende königliche Gruppe mit finsteren Blicken. Die Waffen waren natürlich ständig äußerst wachsam, aber Estora spürte trotzdem eine winzige Veränderung in ihrer Haltung.
»He, Herr König, wo ist mein Falke?«, schrie ein Mann in fleckiger Kleidung. Zacharias schüttelte den Kopf, als die Garde sich dem Mann nähern wollte. Jeder andere König hätte ihn wegen seiner Unverschämtheit gefangen nehmen und auspeitschen lassen. Eine alte Frau spuckte mitten auf den Weg des Königs und seines Gefolges. Sie wurde von der Garde lediglich vom Straßenrand weggeführt.
»Man sollte die Unterstadt von diesem Pöbel reinigen«, brummte Richmont.
»Und was würdet Ihr mit den Leuten machen?«, fragte Zacharias mit einer täuschend sanft klingenden Stimme.
»Ich würde sie aus der Stadt jagen und zur Zwangsarbeit verurteilen.«
»Die meisten haben nicht darum gebeten, arm zu sein«, sagte Zacharias, als spräche er mit sich selbst. Estora, die direkt neben ihm ritt, hörte ihn zwar, aber sie glaubte nicht, dass irgendjemand anders ihn hatte hören können, am allerwenigsten Richmont, der vor sich hin brummte und sich bei ihrem Vater beschwerte. Seit ihrer Verlobung war Richmont, den sie noch nie gemocht hatte, sogar noch dreister geworden. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher