Pfad der Schatten reiter4
Stimmen seiner Schwestern, die Karigan liebevoll ausschalten. Stevic lächelte. Seine Schwestern waren eine echte Naturgewalt, und es war kein Wunder, dass Karigan in ihrer Obhut zu einer so temperamentvollen und eigenwilligen jungen Frau herangewachsen war.
Stevic kehrte nach unten in sein Büro zurück. Er würde dort die Zeit totschlagen, bis Karigan ihn aufsuchte, wie sie es immer tat, sobald sie ihren Tanten entfliehen konnte.
Stevic versuchte, sich in die Regeln des Geschäftslebens zu vertiefen, während er auf Karigan wartete, aber er legte das Buch immer wieder beiseite, um auf und ab zu gehen, während draußen der Wind heulte. Er konnte es kaum erwarten, sie zu sehen und zu erfahren, was sie nun eigentlich nach Hause geführt hatte.
Wie so oft rätselte er darüber, warum sie eine Grüne Reiterin hatte werden müssen, obwohl hier, zu Hause bei ihrem Klan, ein relativ sicheres und einträgliches Leben als Kauffrau auf sie gewartet hätte. Sie hatte ihm ihre Berufung erklärt, den magischen Zwang, der sie zur Grünen Reiterin gemacht hatte, aber das Wissen, dass seine Tochter in irgendeiner magischen Verzauberung gefangen war, die sie zwang, dem König zu dienen, entsetzte Stevic nur noch mehr. Nun ja, vielleicht war Zwang der falsche Begriff, aber jedenfalls konnte man Magie niemals trauen. Er hatte geglaubt, dass die letzten Spuren der
Magie schon vor langer Zeit verschwunden wären – aber nein: Es war noch genug Magie übriggeblieben, um ihm seine Tochter wegzunehmen.
Er fand es schrecklich, sich um sie Sorgen zu machen und sich vorzustellen, dass sie vielleicht Straßenräubern zum Opfer fiel, vom Pferd stürzte oder aus reiner Dummheit in einem Schneesturm erfror. Er knirschte mit den Zähnen und unterbrach sein nervöses Hin- und Hergehen, um das Porträt seiner Frau hinter seinem Schreibtisch zu betrachten. Kariny war schon seit so vielen Jahren nicht mehr bei ihm. Das Licht in seinem Büro war schwach, aber dennoch blickte sie leuchtend und atemberaubend von der Leinwand herab, fast, als würde sie gleich aus dem vergoldeten Rahmen treten und wieder bei ihm sein, lebendig und lachend, und ihn dafür tadeln, dass er sich so viele Sorgen machte.
Einem uneingeweihten Betrachter wäre ihr Gesichtsausdruck genau so ernst erschienen, wie es bei Porträts üblich war, aber er sah das versteckte Lächeln, den Funken Humor in den blauen Augen. Augen, die der Maler so gut getroffen hatte. Sie hatte sich amüsiert gezeigt, als er das Porträt in Auftrag gegeben hatte, und während der Sitzungen hatte sie ihn geneckt, es sei ein übertriebener Luxus, einen so renommierten Künstler zu engagieren, um eine so »unwürdige« Ehefrau wie sie zu malen.
Niemals unwürdig, dachte er.
Sie starb innerhalb eines Jahres nach der Vollendung des Porträts, und Stevic war dankbar, dass er es in Auftrag gegeben hatte. Sonst hätte er gefürchtet, allmählich die Einzelheiten ihrer Züge zu vergessen. Doch nun konnte er jederzeit das Gemälde ansehen, das Kariny auf eine sehr begrenzte Weise für ihn wieder zum Leben erweckte: die lebendige, pulsierende Frau, ihre Berührung, ihre Eigenheiten, ihr melodisches Gelächter, das Gefühl, wie ihre Haare durch seine Finger flossen.
Und außerdem gab es seine Tochter, die ihrer Mutter so ähnlich sah. Karigan war jetzt ungefähr im selben Alter, in dem ihre Mutter gewesen war, als das Porträt gemalt wurde. So jung.
Stevic würde Kariny niemals alt werden sehen. Er wusste, dass sie mit Anmut alt geworden wäre, ihre Schönheit wäre nicht verflogen, sondern hätte sich im Lauf der Jahre nur vervollkommnet. Stattdessen war die Zeit für sie stehen geblieben und hatte sie für immer in ihrer jugendlichen Erscheinung eingefangen.
Er schüttelte den Kopf. In gewisser Weise war die Zeit für ihn ebenfalls stehen geblieben. Sie war in dem Moment stehen geblieben, als Kariny zusammen mit ihrem ungeborenen Kind am Fieber starb. Er hatte damals beschlossen, dass ihr erstes Kind das lange, fruchtbare Leben führen würde, das Kariny verweigert worden war. Aber jetzt war Karigan erwachsen geworden, und es war ihm unmöglich, sie zu beschützen. Die Tatsache, dass sie im Dienst des Königs einen gefährlichen Beruf ausübte, war dabei absolut keine Hilfe.
Stevic riss seine Augen vom Porträt seiner Frau los, und seine Rastlosigkeit führte ihn hinaus in die Eingangshalle. Es duftete schon nach gebratener Gans. Sein Magen knurrte, und er beschloss, sich in die Küche zu wagen.
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