Pfad der Seelen
scharfzüngig gewesen war, waren meine Verhandlungen mit den Toten.
Sie sagte: » Was weißt du von der Königin?«
» Ich habe sie noch nie gesehen.« Ich wusste nur, was jeder wusste, und darüber hinaus ein wenig zu viel über die Ordentlichkeit, die diese Herrscherin verlangte. Unaufhörlich sauberes Leinen aus der Wäscherei, das sich mit den geschrubbten Pflastersteinen, den fleckenlosen Zimmern, den sorgfältigen Aufzeichnungen von Schiffswracks messen konnte. Unaufhörlich saubere Kleider: Grün für den Haushalt der jungen Königin, Blau für den der alten, Braun für die Ställe, Grau für jene, die irgendwo im Palast Gartenarbeiten verrichteten.
Das Mädchen sagte: » Möge Ihre Gnaden lange leben«, und dabei ging hinter ihren Augen etwas vor, das den alltäglichen Worten eine Bedeutung verlieh, die ich nicht verstand. » Jetzt lass mich arbeiten.«
» Na gut – aber verrätst du mir vorher noch etwas?«
» Vielleicht.«
» Wie heißt du?«
» Maggie Hawthorne. Jetzt verschwinde!«
Schon wieder jemand, der mir sagte, ich solle verschwinden.
» Maggie Hawthorne, wenn ich nachts unter dem Tisch schlafe, wird mich dann jemand verprügeln?«
Sie warf mir einen überraschten Blick zu. » Nein, natürlich nicht. Aber ich bin die Erste, die am Morgen hier ist, und wenn du dich wieder danebenbenimmst, werde ich dich verprügeln.«
Ich zweifelte nicht daran, dass sie dazu fähig war. Ich nickte dankbar und strich mir über die schmerzende Nase. Und da sie mir nicht ein drittes Mal sagte, dass ich gehen sollte, blieb ich und wartete auf das Frühstück.
Im Palast lebten zwei rivalisierende Königinnen.
Nicht, dass mir schon je eine von ihnen zu Gesicht gekommen wäre – natürlich nicht. Königin Eleanor, die alte Königin, hätte den Thron ihrer Tochter überlassen sollen, als die Prinzessin fünfunddreißig geworden war. So war es im Königinnenreich stets Brauch gewesen. Kein Herrscher sollte zu lange regieren, damit sich die Machtverhältnisse nicht zu sehr verfestigten und die Beamten nicht bestechlich wurden. Die Königinnen hatten immer abgedankt, wenn die Erbin des Throns fünfunddreißig geworden war.
Aber Königin Eleanor hatte sich geweigert. Prinzessin Caroline tauge nicht zur Herrscherin, sagte sie. Ihre Pflicht als Königin gegenüber ihrem Land mache es ihr unmöglich, die Krone von Gloria an eine Tochter weiterzurreichen, die … was war?
Einen sprunghaften Verstand besaß, sagten manche Gerüchte.
Eine Hexe war, flüsterten andere.
Eine Giftmischerin, sagten wieder andere. Wegen des Gemahls der Prinzessin, der gleich nach der Geburt ihres jüngsten Kindes und ihrer Erbin gestorben war, so plötzlich und bei blühender Gesundheit … eine Giftmischerin und eine Hure.
Nein, sagten jene, die treu zu Caroline standen. Das alles liegt nur an der Eitelkeit der alten Königin und dem Gefallen, den diese an der Macht gefunden hat. Sie sucht einfach Ausreden, um länger auf dem Thron zu bleiben.
Und dort war sie auch geblieben, seit die Armee ihr gegen ihre Tochter den Rücken gestärkt hatte. Königin Eleanor hatte die Blauen in der Hand. Das hatte die Prinzessin nicht davon abgehalten, sich krönen zu lassen, wenn auch nicht mit der Krone von Gloria, die ihre Mutter weiterhin in Besitz hatte. Die alte Königin hätte Königin Caroline aus dem Palast entfernen lassen können, aber das hatte sie nicht getan. Und daher lebten beide Königinnen in getrennten Flügeln des riesigen Bauwerks, jede mit einer eigenen Garde und Dienern und treuen Höflingen.
Die Gerüchte kamen nie zur Ruhe, und in den Herbergen und Schenken und Bauernhäusern des ganzen Königinnenreichs stritten sich die Leute oder kicherten oder warteten einfach ab, entsetzt und fasziniert davon zu erfahren, was als Nächstes geschehen mochte. Fast besser als ein Maskenball, sagten die Respektlosen und die Mutigen. Die Ernte war etliche Jahre lang gut ausgefallen, das Land hatte Frieden, Lagerhäuser und Speisekammern waren mit Vorräten für den Winter gefüllt. Wer in Gloria an der Macht war, spielte keine große Rolle, wenn die Leute einen vollen Bauch, eine gemütliche Hütte im Winter und ein warmes Feuer hatten. Sollten die beiden Königinnen doch darum kämpfen, wer auf welchem fein geschnitzten Stuhl sitzen durfte.
Aber innerhalb des Palastes war es in jeglicher Hinsicht von Bedeutung.
» Schon wieder hier?«, fragte Maggie, wie sie es jeden Morgen tat.
» Weshalb hast du mich geweckt?« Ich kroch zerzaust und
Weitere Kostenlose Bücher