Pfade Ins Zwielicht
den Fall, dass jemand bedient werden musste. Sevanna war da, Therava auch.
Sevanna war eine hochgewachsene Frau, etwas größer als Faile, mit hellgrünen Augen und Haar wie gesponnenem Gold. Man hätte sie als schön bezeichnen können, wäre da nicht dieser Zug von Habsucht um ihre wulstigen Lippen gewesen. Abgesehen von ihren Augen und dem Haar und dem von der Sonne verbrannten Gesicht schien nur wenig an ihr zu einer Aiel zu passen. Ihre Bluse war aus weißer Seide, ihr Rock war ein Reitrock und ebenfalls aus Seide, wenn auch dunkelgrau, und das in Schläfenhöhe gebundene Tuch leuchtete blutrot und golden. Es war ebenfalls aus Seide. Rote Stiefel lugten unter den Rocksäumen hervor, wenn sie sich bewegte. An jedem Finger steckte ein juwelengeschmückter Ring, und ihre Halsketten und Armbänder aus dicken Perlen und Diamanten und taubeneigroßen Rubinen und Saphiren und Smaragden und Feuertropfen ließen alles, was Someryn trug, lächerlich erscheinen. Nicht ein Stück war von Aiel gefertigt. Therava hingegen war die personifizierte Aiel, dunkle Wolle und weiße Aglode, die Hände ohne Schmuck und alle Halsketten und Armreifen aus Gold und Elfenbein. Sie war größer als die meisten Männer, und ihr dunkelrotes Haar war mit weißen Strähnen durchsetzt; sie war ein blauäugiger Adler, der Sevanna eigentlich wie ein verkrüppeltes Lamm hätte verschlingen müssen. Faile würde eher Sevanna zehn Mal verärgern als Therava auch nur einmal, aber die beiden Frauen standen sich an einem mit Elfenbein- und Türkisintarsien verzierten Tisch gegenüber, und Sevanna erwiderte jeden von Theravas wütenden Blicken mit der gleichen Intensität.
»Was heute geschieht, bedeutet Gefahr«, sagte Therava mit der Miene von jemandem, der es leid war, sich ständig zu wiederholen. Und vielleicht bereit war, das Messer aus dem Gürtel zu ziehen. Sie strich über den Griff, während sie sprach, und Faile glaubte nicht, dass das in Gedanken geschah. »Wir müssen soviel Abstand wie nur möglich zwischen uns und dem bringen, was auch immer es ist, und zwar so schnell wir können. Im Osten gibt es Berge. Sobald wir sie erreicht haben, sind wir in Sicherheit, bis wir alle Septimen wieder vereint haben. Septimen, die nie getrennt worden wären, wärt Ihr nicht so überzeugt von Euch gewesen, Sevanna.«
»Ihr sprecht von Sicherheit?« Sevanna lachte. »Seid Ihr so alt und zahnlos geworden, dass Ihr mit Brot und Milch gefüttert werden müsst? Denkt doch mal nach. Eure Berge sind wie weit entfernt? Wie viele Tage oder Wochen, die wir durch diesen verfluchten Schnee stapfen müssen?« Sie zeigte auf den Tisch zwischen ihnen, auf dem eine Karte ausgebreitet lag, die man mit zwei schweren Goldschalen und einem schweren dreigeteilten goldenen Kerzenständer beschwert hatte. Die meisten Aiel hatten für Karten nichts übrig, aber Sevanna hatte sie zusammen mit anderen Feuchtländersitten schätzen gelernt. »Was auch immer geschehen ist, es ist weit weg von uns, Therava. Das habt Ihr gesagt, so wie jede Weise Frau. Die Stadt ist voller Vorräte, sie kann uns wochenlang ernähren, wenn wir hier bleiben. Wer soll uns hier herausfordern, sollten wir bleiben? Und wenn wir es tun ... Ihr kennt die Gerüchte, die Botschaften. In zwei oder drei Wochen, höchstens vier, werden sich mir zehn weitere Septimen angeschlossen haben. Vielleicht auch mehr! Wenn man den Feuchtländern aus der Stadt Glauben schenken kann, wird der Schnee bis dahin geschmolzen sein. Dann werden wir schnell reisen können, statt alles auf Schlitten ziehen zu müssen.« Falle fragte sich, ob die Städter den Schlamm erwähnt hatten.
»Zehn weitere Septimen werden sich Euch anschließen«, sagte Therava. Ihre Hand schloss sich um den Messergriff. »Ihr sprecht für den Clanhäuptling, Sevanna, und darum hat man mich erwählt, Euch wie ein Clanhäuptling zu beraten, der zum Wohle des Clans auf den Rat hören muss. Ich rate Euch, nach Osten zu ziehen. Die anderen Septimen können sich uns genauso gut in den Bergen anschließen, und wenn wir unterwegs ein bisschen hungern müssen, wem unter uns sind ein paar Entbehrungen fremd?«
Sevanna spielte an einer Kette herum, ein großer Smaragd in ihrer Hand funkelte im Licht der Stehlampen wie ein grünes Feuer. Ihr Mund wurde schmal, was sie noch hungriger aussehen ließ. Sie kannte Entbehrungen, aber trotz der mangelnden Wärme im Zelt hatte sie sich entschieden, in Zukunft darauf zu verzichten. »Ich spreche für den Häuptling, und ich
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