Pfand der Leidenschaft
bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Weißt du überhaupt, wie viele Tavernen es in London gibt?«
»Nein, aber ich bin zuversichtlich, es am Ende der Nacht herausgefunden zu haben.«
»Wir werden nicht mit den Tavernen beginnen. Wir werden zu dem Ort fahren, wo Leo die größtmöglichen Schwierigkeiten erwarten.«
»Und der wäre?«
»Das Jenners.«
Das Jenners war ein berüchtigter Club, eine Spielhölle, in der sich Gentlemen nicht gerade wie Gentlemen aufführten. Ursprünglich von dem ehemaligen Boxer namens Ivo Jenner gegründet, hatte der Club nach seinem Tod den Besitzer gewechselt und wurde nun von seinem Schwiegersohn geführt, Lord St. Vincent. Der zweifelhafte Ruf von St. Vincent hatte den Reiz, der von dem Club ausging, nur noch gesteigert.
Eine Mitgliedschaft im Jenners kostete ein wahres Vermögen. Selbstverständlich hatte Leo vor drei Monaten, als er seinen Titel geerbt hatte, sofort darauf bestanden, dem Club beizutreten.
»Wenn du dich schon zu Tode trinken möchtest«, hatte Amelia ihrem Bruder mit ruhiger Stimme erklärt, »käme es mir sehr gelegen, wenn du deinem Laster an einem erschwinglicheren Ort nachkämst.«
»Aber ich bin jetzt ein Viscount«, hatte Leo süffisant erwidert. »Was werden die Leute sagen, wenn ich es nicht stilvoll tue?«
»Dass du ein Verschwender und Narr bist und man
den Titel ebenso gut einem Affen hätte geben können.«
Diese Worte hatten ihrem Bruder ein Grinsen entlockt. »Mit diesem Vergleich tust du dem Affen entschieden Unrecht.«
Amelia presste die behandschuhten Finger gegen die schmerzhaft pochende Stirn. Die zunehmende Sorge um Leo fraß sie innerlich auf. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Bruder verschwunden war, doch es war die längste Zeitspanne, in der sie nichts von ihm gehört hatten. »Ich war noch nie zuvor in einer Spielhölle. Ich werde heute wohl eine neue Erfahrung machen!«
»Sie werden dir auf keinen Fall Einlass gewähren. Immerhin bist du eine Lady. Und selbst, wenn sie es täten, würde ich es nicht erlauben.«
Amelia starrte ihn überrascht an. Es kam nur höchst selten vor, dass Merripen versuchte, ihr etwas zu verbieten. Wenn sie genau darüber nachdachte, war es vielmehr das erste Mal, und es gefiel ihr überhaupt nicht. Und in Anbetracht des Umstands, dass das Leben ihres Bruders womöglich auf dem Spiel stand, war nun auch nicht der rechte Augenblick, um über belanglose Nichtigkeiten wie gesellschaftliche Normen oder Anstand zu streiten. Außerdem war sie furchtbar neugierig, was sich hinter einer solchen Oase der Männlichkeit verbarg. Und wenn ihr schon das Schicksal einer alten Jungfer vorherbestimmt war, konnte sie genauso gut die kleinen Vorzüge auskosten, die mit einem solchen Status einhergingen.
» Dich werden sie aber auch nicht einlassen«, hielt sie ihm entgegen. »Du bist ein Roma.«
»Wie es der Zufall will, ist der Geschäftsführer des Clubs ebenfalls ein Roma.«
Das schien ihr erstaunlich. Außergewöhnlich. Zigeuner waren als Diebe und Betrüger verschrien. Einen Roma mit der Buchführung und dem Bargeld zu betrauen, ihn sogar bei Streitigkeiten an den Spieltischen als Schlichter zu benennen, grenzte fast schon an ein Wunder. »Er muss eine bemerkenswerte Person sein, wenn er eine solche Position innehat«, sagte Amelia. »Also schön, dann gestatte ich dir, mich ins Jenners zu begleiten. Womöglich ist er in deiner Anwesenheit entgegenkommender.«
»Vielen Dank.« Merripens Stimme war so trocken, man hätte ein Streichholz an ihr entzünden können.
Amelia schwieg nun – ein kluger Schachzug ihrerseits -, während der Einspänner durch das Zentrum der Stadt mit seinen unzähligen Attraktionen, Geschäften und Theatern fuhr. Die nur mäßig gefederte Kutsche holperte über die breiten Straßen und ratterte vorbei an hübschen Plätzen voll säulengerahmter Häuser, ordentlich mit Zäunen abgeschirmten Grünflächen und Gebäuden im georgianischen Stil. Im Laufe der Fahrt wurden die Straßen immer prächtiger, und die einfachen Ziegelwände wurden durch historische Fassaden mit viel Stuck abgelöst.
Nie zuvor hatte Amelia das Westend gesehen. Obwohl ihr Dorf nicht weit entfernt lag, wagten sich die Hathaways nicht oft in die Stadt, und sicherlich nicht in diese Gegend. Selbst jetzt, nachdem sie ihr Erbe angetreten hatten, besaßen sie nicht viel, was sie hier hätten ausgeben können.
Mit einem verstohlenen Blick auf Merripen fragte sich Amelia verwundert, wie er scheinbar genau
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