Pfand der Leidenschaft
wissen
konnte, wohin sie fahren mussten, obwohl ihm die Stadt genauso fremd war wie ihr. Aber Merripen besaß einen angeborenen Instinkt und verirrte sich niemals.
Sie bogen in die King Street, die von Gaslampen fast taghell erleuchtet war. Hier herrschte ein geschäftiges Treiben, und unzählige Kutschen sowie Fußgänger auf dem Weg zu ihren Abendvergnügungen verstopften die Straße. Der Himmel glühte in einem stumpfen Rot, während die Abenddämmerung durch einen Schleier aus verbrannter Kohle und Rauch sickerte. Hochaufragende Gebäude durchbrachen den Horizont wie Kronen, dunkel und unheilverkündend.
Merripen lotste das Pferd in eine schmale Gasse mit kleinen Häusern, die früher als Stallungen genutzt worden waren, sie grenzten an ein großes, eindrucksvolles Steingebäude. Jenners. Amelias Magen zog sich krampfhaft zusammen. Wahrscheinlich wäre es zu viel verlangt, dass sie ihren Bruder hier sicher und wohlbehalten vorfände, am ersten Ort, an dem sie nach ihm suchten.
»Merripen?« Ihre Stimme klang angespannt.
»Ja?«
»Ich sollte dir wohl beichten, dass ich Leo erschießen werde, falls er sich noch nicht selbst das Leben genommen hat.«
»Ich werde dir die Pistole reichen.«
Amelia lächelte und richtete ihre Haube. »Lass uns hineingehen. Und denk dran! Ich übernehme das Reden.«
Ein widerwärtiger Geruch erfüllte die Gasse, der Gestank nach Tierkadavern und Abfall und Kohlenstaub. Sobald längere Zeit kein Regen fiel, sammelte
sich in Windeseile der Dreck in den Straßen und Nebenflüssen der Stadt. Amelia stieg aus dem Einspänner und wich mit einem eleganten Sprung fetten Ratten aus, die am Gebäude entlanghuschten.
Während Merripen einem Stallburschen die Zügel reichte, blickte Amelia zum Ende des Gässchens.
Zwei Straßenjungen kauerten vor einem kleinen Feuer und brieten etwas an Stöcken. Amelia wollte sich lieber nicht ausmalen, was die beiden zu essen gedachten. Da wurde ihre Aufmerksamkeit auf eine Gruppe gelenkt – drei Männer und eine Frau -, die von den flackernden Flammen des Feuers in ein düsteres Licht gehüllt waren. Zwei der Männer lieferten sich einen Faustkampf. Allerdings waren sie derart betrunken, dass ihre Auseinandersetzung einer Vorstellung von unbeholfenen Tanzbären glich.
Die Frau war farbenprächtig und geschmacklos gekleidet, das Oberteil derart tief ausgeschnitten, dass ihr voller Busen herausquoll. Es schien ihr zu gefallen, dass sich zwei Männer ihretwegen prügelten, während ein dritter versuchte, den Streit beizulegen.
»Also wirklich, ihr beiden«, rief sie im breitesten Cockney-Akzent. »Ich hab doch gesagt, ich nehme euch beide – ihr braucht euch nicht um mich zu prügeln.«
»Bleib hier«, murmelte Merripen.
Amelia, die geschickt vorgab, ihren Begleiter nicht gehört zu haben, schlich sich näher an das Spektakel. Es war nicht der Anblick der beiden Kampfhähne, der sie in ihren Bann zog – selbst in ihrem Dorf, dem friedlichen kleinen Primrose Place, kam es gelegentlich zu Schlägereien. Alle Männer, unabhängig von ihrem sozialen Stand, erlagen zuweilen ihren niederen
Instinkten. Was Amelias Interesse geweckt hatte, war der dritte Mann, der vermeintliche Friedensstifter, der sich zwischen die betrunkenen Narren gestellt hatte und sie zur Vernunft bringen wollte.
Er war ebenso gut gekleidet wie die Gentlemen neben ihm … obwohl es offensichtlich war, dass dieser Mann kein Gentleman war. Er hatte schimmerndes rabenschwarzes Haar, einen bronzefarbenen Teint und sah ungeheuer exotisch aus, während er sich mit der Eleganz einer Katze bewegte und jeglichen Schlägen und Hieben seiner Gegner mit spielerischer Leichtigkeit auswich.
»Meine Herren«, appellierte er an ihre Vernunft und strahlte dabei eine unerschrockene Gelassenheit aus, selbst als er eine schwere Faust mit dem Unterarm abfangen musste. »Ihr werdet mit diesem Unsinn aufhören, oder ich sehe mich gezwungen …« Er brach ab und duckte sich zur Seite, genau in dem Augenblick, als sich einer der Gentlemen von hinten auf ihn werfen wollte.
Die Prostituierte gackerte. »Heute bist du aber wieder in Höchstform, Rohan!«.
Während sich der fremdartig anmutende Mann zurück ins Schlachtgetümmel stürzte, versuchte er wieder die beiden Streithähne voneinander zu trennen. »Meine Lords, sicherlich ist Euch bewusst …« – er tauchte unter einem Fausthieb hindurch – »… dass Gewalt …« – er wehrte einen rechten Haken ab – »… keine Lösung ist.«
»Verzieht
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