Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
wirft einen flüchtigen Blick auf den gefesselten Jungen und seine Spielkameraden. Dann hebt sie die Hand, um einigen der Mädchen, die ihr am nächsten stehen, zum Abschied zu winken.
So schnell, wie alles begonnen hat, ist es vorbei. Kaum eine halbe Minute dauert es, bis sich die Kinder in alle Richtungen zerstreut haben und wieder ganz normale Kinder sind, auf dem Heimweg von der Vorschule. Alle gehen ihres Weges, allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Auf dem Bürgersteig lassen sie einen sechsjährigen Jungen zurück, mit schmerzendem Körper und unendlich traurig.
STOCKHOLM, NOVEMBER 2006, MONTAGABEND
Es war erst vier Uhr nachmittags, aber schon dunkel. Der Schnee fiel in großen, nassen Fetzen vom Himmel, die schmolzen, sobald sie den Boden berührten. Vorbeifahrende Autos blendeten ihn, und er musste ständig aufpassen, dass er nicht nass gespritzt wurde. Warum fuhren diese Autos so schnell, dass das schmutzige Wasser bis zu ihm hinaufspritzte? Man muss auf Fußgänger achten, wenn man mit dem Auto unterwegs ist, das lernt man schon in der Fahrschule. Vielleicht sahen die Fahrer ihn gar nicht, klein und unansehnlich, wie er war. Vielleicht war er in seiner dunklen Kleidung in der Dämmerung sogar unsichtbar. Seine gebeugte Haltung trug wahrscheinlich noch dazu bei. Er sah wohl auch ein wenig lächerlich aus, denn seine Füße zeigten nicht nach vorn, sondern standen nach außen, wie bei einem Clown. Dabei war er das ganz sicher nicht.
Eher war er ein stiller Mensch, der nie in einen Konflikt verwickelt war – vielleicht weil er anderen nicht widersprach. Wie sollte er auch, wenn er keine Kontakte hatte. Außer auf der Arbeit natürlich, draußen in Järfälla, wo er in der Poststelle eines großen Elektronikkonzerns arbeitete. Er verteilte die Post an die Ingenieure, Sekretärinnen und deren Chefs und all die anderen, die bei der Firma beschäftigt waren. Das war seine einzige Aufgabe. Er wurde nie damit beauftragt, die Post zu sortieren. Da gab es andere, qualifiziertere Leute, die solche Aufgaben bewältigen und wichtige Entscheidungen fällen konnten. Etwa dann, wenn die Post nicht richtig adressiert war.
Es fiel ihm sehr schwer, Entscheidungen zu treffen. Wenn er genau darüber nachdachte, stellte er fest, dass er eigentlich nie eine eigene Meinung zu irgendetwas gehabt hatte. Wenn er ausnahmsweise einmal mit anderen Kindern gespielt hatte und ganz unerwartet gefragt wurde, was er von der einen oder anderen Sache hielt, dann hatte er eigentlich nie irgendeine Meinung dazu gehabt. Denn im Grunde hatte er nur einen Wunsch: mit den anderen Kindern zusammen zu sein und zu tun, was sie ihm sagten – ihnen zu Willen zu sein. Er wollte wirklich nur eine einzige Sache – von den Menschen in seiner Umgebung angenommen werden. Jetzt war er vierundvierzig Jahre alt, und dieser Wunsch war immer noch nicht in Erfüllung gegangen.
Oft fragte er sich, was geschehen würde, wenn sein Wunsch eines Tages in Erfüllung ginge. Würde er dann plötzlich neue, komplexere Bedürfnisse entwickeln und eigene Ansichten zu allen möglichen Dingen haben? Passierte das automatisch, wenn man eine allseits anerkannte Persönlichkeit war?
Er schaute zu den Fenstern auf der anderen Seite der Fleminggata hinauf. Sie waren einladend beleuchtet und erhellten die herbstliche Dunkelheit, indem sie Topfpflanzen, Gardinen, Lampen mit hübschen Schirmen, südostasiatischen Fächern und anderem Zierrat zur Schau stellten. In einigen Fenstern prangten bereits Adventsleuchter, als sollte das Glück der Familie, des Paars oder des Menschen, der dahinter wohnte, noch betont werden. Welchen Sinn sollten dieses freundliche Licht und die gepflegte Einrichtung sonst auch haben?
Sein eigenes Wohnzimmerfenster blickte ihn stattdessen dunkel und leer an, wenn man von einem vernachlässigten Ficus und der herunterbaumelnden Schnur eines Rollos absah. Auch das Küchenfenster war vollkommen leer bis auf ein einsames, altes Transistorradio.
Hin und wieder blätterte er mit echtem Interesse in einem Einrichtungsmagazin. Nicht weil er nach Anregungen für sein eigenes Zuhause suchte, denn schließlich gab es keinen Grund, große Mühe auf eine Wohnung zu verwenden, in der nur er sich aufhielt. Nur er – eine einzelne, unbedeutende Person, so viel wie gar keine. Nein, er las in den Einrichtungszeitschriften aus demselben Grund, aus dem er den Leuten in die Fenster schaute. In seiner Fantasie begab er sich in eine andere Welt, eine Welt voller
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