Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
der andere mit der Zeitung in der Hand dastand. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er hatte keine vernünftige Erklärung für sein Handeln. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte er nie etwas Ungewöhnliches getan: Er fuhr zur Arbeit und wieder zurück, war ins Kino oder gelegentlich spazieren gegangen, hatte gelesen oder ferngesehen. Und jetzt befand er sich plötzlich in einer U-Bahn-Station, weil er einen Mann verfolgte, den er seit fast vierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Erstaunlicherweise fühlte er sich gut dabei. Es geschah etwas in seinem Leben, er hatte sich in ein Abenteuer gestürzt und genoss es.
*
Der Mann genoss es, sich auf dem Nachhauseweg mit einer Abendzeitung in der Hand auf einen der Sitze in der U-Bahn sinken zu lassen. Er begann mit seiner Arbeit im Maklerbüro schon um sieben Uhr in der Frühe, damit er rechtzeitig am Abend zu Hause war und die Kinder noch eine Weile sehen konnte, bevor sie ins Bett gingen. Er stand also schon um halb sechs auf, und vor halb zwölf kam er selten ins Bett, weshalb er unter chronischem Schlafmangel litt. Aber er hatte gelernt, damit zu leben, und schon in ein paar Jahren würden die Kinder viel selbstständiger sein. Dann würden Pia und er an den Wochenenden ausschlafen können.
Drei Kinder hatten sie bekommen, drei wunderbare Kinder, die trotz ihrer Quengeleien, ihrer Trotzigkeit und ihrer schier unerschöpflichen Energie dafür verantwortlich waren, dass er so glücklich war. Genauso ging es auch Pia, die er bereits an der Universität kennengelernt hatte, mit der er aber erst acht Jahre später zusammengekommen war, als sie sich auf einer Party wieder getroffen hatten. Sie hatte eine Teilzeitstelle als Zahnpflegerin in dem Vorort, in dem sie wohnten, und ihre Beziehung funktionierte auch nach fünfzehn Jahren noch hervorragend. Sie waren wie beste Freunde und konnten über fast alles miteinander reden.
Mit seiner Arbeit war er im Großen und Ganzen auch zufrieden, auch wenn er selbst an den Wochenenden immer wieder Besichtigungstermine wahrnehmen musste. Das Geschäft lief gut, und das war die Hauptsache. Die Arbeit als Immobilienmakler war abwechslungsreich, er arbeitete selbstbestimmt, und er und sein Partner konnten sich jeden Monat ein ordentliches Gehalt auszahlen.
So wie sein Leben begonnen hatte, war es keine Selbstverständlichkeit gewesen, dass er ein glücklicher Mensch geworden war. Er war als einziges Kind einer alkoholkranken Mutter aufgewachsen, die ihr Geld als Friseurin verdient hatte – wenn sie denn arbeitete – und deren einziges Interesse Männern in allen Ausführungen gegolten hatte. Sie waren oft umgezogen und nirgendwo wirklich heimisch geworden. Etliche mehr oder weniger seriöse Stiefväter waren im Laufe der Jahre gekommen und auch wieder gegangen. Als kleiner Junge galt er als unartig und streitlustig, und seine Kindheit war geprägt von Prügeleien und ständigem Nachsitzen. Wahrscheinlich war er eine echte Landplage gewesen. Seine Noten hatten natürlich darunter gelitten, aber aus irgendeinem Grund hatte er sich trotzdem entschieden, im Gymnasium eine theoretische Fachrichtung einzuschlagen.
Dort hatte sich alles geändert. Seine Mutter war schon bald, nachdem er am Gymnasium begonnen hatte, wieder umgezogen, aber er hatte beschlossen, sie nicht zu begleiten. Also lebte er von da an in einer Einzimmerwohnung und war ganz auf sich allein gestellt. An den Wochenenden hatte er an einer Tankstelle gearbeitet, abends gelernt, Fußball gespielt und die Hausarbeit erledigt. In jener Zeit war er erwachsen geworden, und es war ihm tatsächlich gelungen, das Gymnasium mit einem guten Zeugnis zu verlassen. Gut genug, um zu einem Wirtschaftsstudium an der Universität zugelassen zu werden.
Und jetzt saß er hier, auf dem Rückweg von seiner gut bezahlten Arbeit in der Firma, die er zusammen mit seinem Partner selbst aufgebaut hatte, auf dem Heimweg zu seiner geliebten Frau und seinen geliebten Kindern in ihrem gepflegten Reihenhaus. Er gönnte sich diesen Gedanken, und sein Wohlgefühl wurde noch verstärkt, als er all die grauen Mitreisenden betrachtete, die um ihn herum Platz genommen und ihre Nasen tief in eine dieser Gratiszeitungen gesteckt hatten oder mit leerem Blick aus dem Fenster starrten. Sein Blick fiel auf das Spiegelbild einer dieser gescheiterten Existenzen. Der Mann saß einfach nur da und starrte ihn an, als könnte man ihm sein Glück ansehen. Störte den Mann das vielleicht? Nun gut, damit
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