Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
gelaufen war und der Hundeführer und viele der anderen Polizisten schon aus seinem Gesichtsfeld verschwunden waren, entdeckte er plötzlich, dass es kein gewöhnlicher Zubringer war, auf dem er sich befand, sondern dass die Straße zu einer Brücke hinaufführte, die den Nynäsvägen überquerte. Ganz hinten auf dieser Brücke, fast auf der gegenüberliegenden Seite, erblickte er im Schein der orangefarbenen Laternen, die an großen, gespenstischen Stahlkonstruktionen über der Straße hingen, eine Gestalt, die gerade auf das Brückengeländer zu klettern versuchte. Trotz der Dunkelheit und der unzureichenden Beleuchtung war es nicht zu übersehen. Es war eine Frau, die am Brückengeländer hing, sie hatte lange blonde Haare und trug einen dunklen Mantel.
Der Hundeführer, der sich der einsamen Gestalt schnell näherte, ließ den Hund von der Leine, der in wenigen Sätzen bei ihr war. Er sprang ein paar Mal bellend an ihr hoch und erwischte schließlich eine Ecke ihres Mantels.
»Warte, Katarina! Tu es nicht!«, rief Hamad, der als Erster nach dem Hundeführer eintraf.
Katarina drohte, nach der Attacke des Hundes das Gleichgewicht zu verlieren und auf die Brücke zurückzufallen, aber im letzten Augenblick gelang es ihr, einen Arm aus dem Mantel zu befreien. Sie stemmte sich ein weiteres Mal über das Brückengeländer, klammerte sich mit der freien Hand fest und ließ den Mantel auch vom anderen Arm hinuntergleiten.
Nachdem Sjöberg Katarina auf der Brücke entdeckt hatte, war er stehen geblieben und verfolgte nun das ganze Drama aus einer seitlichen Froschperspektive. Alles schien sich in Zeitlupe abzuspielen, und er sah, wie der Mantel zu Boden glitt und in einem kleinen Haufen direkt neben dem Brückengeländer liegen blieb. Katarina zog sich mit kräftigen Armen auf das reichlich schmale Geländer hinauf und richtete sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf.
Auf sicheren Beinen stand sie nun da und ließ ihren Blick über die Autos unter ihr schweifen, dann blickte sie zu ihm hinüber, und er hätte schwören können, dass sich ihre Blicke begegneten. Dann blickte sie auf die Reihe der immer noch heraneilenden Polizisten hinunter und schaute zuletzt Hamad an. Die ganze Zeit hatte sie ein siegessicheres und – daran würde er sich immer erinnern – sehr schönes Lächeln auf ihren Lippen. Sie hob die Hand wie zu einem Abschiedsgruß.
»Nein!«, schrie Hamad. »Nein! Nein! Nein!«
Die Zeit schien stehen zu bleiben, um sie herum wurde alles still, und der Verkehr bewegte sich im Zeitraffer unten über den Nynäsvägen. Sie breitete ihre Arme wie Flügel aus, dann ließ sie das Brückengeländer, die Polizisten und das Leben hinter sich zurück und flog in die kühle Abendluft hinaus.
Ein hässliches Geräusch auf dem Asphalt brach die Magie. Das Geräusch von Bremsen, zersplitterndem Glas und zerdrücktem Blech durchschnitt die Luft nach Katarina Hallenius’ letzter Tat.
STOCKHOLM, NOVEMBER 2006
Wieder saß Thomas an seinem Küchentisch, und wieder schaute er träumend aus dem Fenster. Aber nichts war mehr dasselbe. Etwas Schreckliches war passiert. Vier Menschen, die er einmal gekannt hatte, waren ermordet worden. Vier Menschen, die alle ihr eigenes Leben gelebt hatten, einige glücklicher, andere weniger glücklich, das war schwer zu sagen.
Aber eines wusste er ganz genau. Keiner von ihnen hatte sterben wollen, und keiner von ihnen hatte es wirklich verdient, in so jungen Jahren und auf so unbegreiflich brutale Art und Weise zu sterben. Sie hatten schreckliche Dinge getan, aber sie waren nur Kinder gewesen, kleine Kinder. Sie hatten wahrscheinlich gar nicht begriffen, welchen Schaden sie angerichtet hatten. Keiner der Erwachsenen hatte etwas unternommen, sie waren in Gleichgültigkeit erstarrt. So hatten die Kinder gehandelt. Sie hatten getan, was sie tun mussten, um ihr eigenes kleines Territorium und ihre soziale Position zu sichern.
Und Katarina hatte zurückgeschlagen. Sie hatte es für sich selbst getan, aber Thomas hatte das Gefühl, als wäre es auch seinetwegen geschehen. Und so hatte er die Nachricht vom Ende dieser tragischen Geschichte mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Katarina war zweifellos ein sehr kranker Mensch gewesen, aber auch sie war ein Mensch. Ihre Leben waren parallel zueinander verlaufen, ohne dass sie voneinander gewusst hatten. Angenommen, sie wären einander begegnet! Sie hätten zusammensitzen und von der Kindheit und ihrem Leben erzählen können, hätten einander
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