Pfeilgift: Katinka Palfys Siebter Fall
kaufen, in einem von den Wohngulags. Aber ich wäre eher in die Bronx gezogen als in ein Dorf.«
»Kann ich verstehen.« Katinka musterte das schön renovierte Treppenhaus, die gedrechselten Säulen des Geländers, die lackierten Holzstufen. Im zweiten Stock steckte Paula den Schlüssel ins Schloss.
»Warte!« Katinka drängte sich vor. »Ich bin für deine Sicherheit verantwortlich.«
»Lass das. Wir sind nicht im Film.«
»Sagte deine Schwiegermutter.«
Paula stöhnte und ließ Katinka vorgehen. Die Wohnung war sauber.
»Habe ich dir gleich gesagt«, meckerte Paula. »Schau dich um, ich mache uns einen Kaffee.«
Katinka wanderte staunend durch die vier Zimmer. Jedes besaß seine eigene Ausstrahlung, hier kam nichts aus dem Möbelhaus, sondern aus den Palästen der Fantasie. Die Wohnung beherbergte Menschen, die gerne lasen und Musik hörten, ohne Fernseher klarkamen und sich nicht um den Mainstream scherten.
»Schön hier«, sagte Katinka und kam zu Paula in die Küche, ein altmodischer, quadratischer Raum mit schwarzen und weißen Bodenfliesen im Schachbrettmuster.
»Stell deine Sachen einfach im Gästezimmer ab«, schlug Paula vor. »Und jetzt gibt’s Kaffee.«
Sie setzten sich auf den Balkon in die Sonne. Die Wärme strahlte von der Hauswand zurück. Es wurde schnell heiß. Paula spannte den Sonnenschirm auf. Gegenüber warb ein Schild für Natursteine.
»Ein unglaublicher Oktober«, sagte Paula.
»Erzähl mir mehr von Bernhild«, bat Katinka.
»Gibt’s nicht viel zu erzählen. Sie hasst mich. Ich bin einfach nicht die richtige Frau für Hagen. Als unsere Ehe in die Krise geriet, posaunte sie es überall herum und hatte nichts Besseres zu tun, als es gleich meinem Vater zu stecken. Du hast ihn doch gesehen. Ein Gentleman der alten Schule«, seufzte Paula. »Er hat wirklich die besten Absichten und will mich unterstützen, aber das bedeutet für ihn, dass ich all das tun muss, was er für richtig hält und Generationen vor ihm für richtig hielten. Modern kann man Papa nicht nennen.«
Katinka dachte kurz an ihren Vater, der sich so gut wie nie in ihr Leben eingemischt hatte.
»Papa war Staatsanwalt«, fuhr Paula fort. »Nie gehört? Zu seiner aktiven Zeit war er über die Grenzen Schweinfurts bekannt als scharfer Hund. Gerfried Jäger, Meister seines Faches, scharf wie ein türkischer Säbel.«
»Ist er schon in Pension?«
»Er ist siebzig, Katinka. Rechne ruhig nach. Er war vergleichsweise alt, als er Vater wurde. Mir gegenüber war er ein guter Vater. Vielleicht, weil ich eine stärkere Persönlichkeit habe als mein Bruderherz. Und ein Mädchen war. Typen wie er sehen Mädchen einiges nach, denn sie verstehen Mädchenseelen sowieso nicht. Als meine Mutter starb, nahm er ein halbes Jahr Urlaub, um unser Leben in den Griff zu kriegen. Ich hab die ganze Trauer um Mama unter den Teppich gekehrt. Mein Lebenszentrum wurde die Schule. Ich machte überall mit, Sport, Musik, Fotokurs, Hauptsache, ich war von morgens bis abends beschäftigt und musste nicht nachdenken. Goddi allerdings hatte immer Probleme damit, den Anforderungen gerecht zu werden, die Papa an seinen Sohn stellte. Einen Sohn , du verstehst.«
Katinka verstand. Diese Geschichten hatte sie oft gehört, und war doch jedes Mal aufs Neue erstaunt, dass es sie noch gab, die Eltern, die sich ihre Kinder zurechtschnitzen wollten und vor Gram zusammenbrachen, wenn es nicht funktionierte.
»Komischerweise hat er mich nie gezwungen, Jura zu studieren. Er fragte einige Male vorsichtig nach, was mich denn interessieren würde. Ich hatte ein sehr gutes Abi, ich hätte alles studieren können. Als ich BWL sagte, da hatte er einen Kloß im Hals. Aber er versuchte nicht, mir meine Pläne auszureden.«
Katinka schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Die Wetterleute im Radio versprachen weiterhin Hochdruckherbstwetter, ruhig und sonnig, aber man konnte sich kaum darauf verlassen, dass es ewig anhalten würde. Katinka mochte den Winter nicht, und in etwas mehr als zwei Monaten war schon Weihnachten!
»Wie ging denn Hagen mit seiner Mutter um?«
»Sehr fürsorglich.«
Auch das gehört zu den Klischee-Geschichten, dachte Katinka.
»Es hat mit seiner Schwester zu tun. Sie ist Junkie, hängt an Tabletten und weiß der Himmel woran noch. Ich schätze, Heroin ist die einzige Droge, die sie noch nicht probiert hat, denn sonst würde sie längst nicht mehr leben.« Paula spielte mit ihrer Kaffeetasse. »Sie ist erst neunundzwanzig.«
»Wer
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