Pferde, Wind und Sonne
zu machen und ohne zu frühstücken. Sicher ist er wieder hinter >Glanzstern< her.«
»Ach so«, sagte Karin, die einen Stich im Herzen fühlte. »Jedenfalls wird er irgendwann wieder auftauchen«, meinte Tante Justine, »natürlich ohne das Pferd, aber mit einigen Beulen mehr.« Sie schob ihren Stuhl geräuschvoll zurück. »Wenn ihr fertig seid, können wir aufbrechen.«
Karin frühstückte hastig und eilte hinaus. Mireille sattelte >Irrlicht<. Tante Justine, auf eine dreizinkige Gabel gestützt, hielt einen großen, schweren Hengst am Zügel; sie machte Karin auf einen schwarzen Fleck auf der Stirn des Tieres aufmerksam, der die Form eines Ahornblattes hatte. »Er gleicht dem Emblem der kanadischen Flagge. Darum heißt der Hengst >Kanada<. Vorsicht! Er liebt es nicht, gestreichelt zu werden.«
Mit kritischem Blick beobachtete sie, wie Karin >Rosa< sattelte. »Zieh den Gurt morgens, wenn das Pferd getrunken hat, nicht zu straff an.«
Als Karin den Fuß in den Bügel setzte, biß sie die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Sie ließ Tante Justine und Mireille voranreiten. In dieser Morgenstunde war die Camargue nicht silbern, sondern golden: der Himmel, die Ebene, die Bäume und das Schilfrohr leuchteten. Feurige Sonnenpfeile blitzten über die Seen. Die Luft war frisch. Möwen kreischten mit ausgebreiteten Flügeln. Sie wirkten wundervoll frei. Diese unendliche Weite nahm Karin gefangen, und sie mußte an ihren Traum denken. Sie sah Alain vor sich, wie er >Glanzstern< verfolgte. Sie zwang sich, nicht daran zu denken. Ohne zu wissen, warum, war ihr dieser Gedanke unerträglich.
Die Reiter folgten dem Weg, den Menschen und Tiere im Laufe der Jahre in den Sand gestampft hatten. Mit ihrem Dreizack deutete Tante Justine auf grünbedeckte Inselchen, die in den Seen ruhten. »Diese Inseln nennen wir Flöße. Während der Trockenheit sind sie Zuflucht der Tiere, denn der Boden ist sandig, und das Grün bleibt frisch.«
Länger als eine halbe Stunde ritten sie an einem durchsichtig blauen See entlang, dessen Ufer mit Grasbüscheln und Salicornia durchsetzt war. Reiher stelzten im Schlamm umher. Der Wind raschelte durch das Schilf, das so hoch war, daß ein Erwachsener leicht darin verschwinden konnte. Die Sonne stieg, und die Mücken machten sich bemerkbar. Karin streifte ihre Ärmel herunter, knöpfte den Kragen zu und schlug um sich. Zwar erklärte ihr Tante Justine, daß die Mücken für das natürliche Gleichgewicht der Fauna notwendig seien. Aber die Tatsache, daß die Einheimischen von ihnen nie geplagt wurden, rief bei Karin den Eindruck hervor, daß die Quälgeister es nur auf sie abgesehen hätten.
Sie näherten sich einem Wäldchen aus Pinien und Wacholderbüschen mit einem undurchdringlichen Dickicht von Gamander, Geißblatt, Ginster und anderem Gesträuch.
»Dort liegt die Weide«, rief Tante Justine. Sie zeigte auf einen Drahtzaun, der vom Gebüsch halb verdeckt war. Sie folgten dieser Absperrung bis zu einem großen Holztor, in dessen Querbalken das Emblem des Gutshofes eingeschnitzt war: ein Stierkopf, zwischen den Hörnern der große Buchstabe T.
»Bleib in meiner Nähe, Karin«, befahl Tante Justine. »Und vor allem keine Angst! Die Stiere sind nicht gefährlich, wenn man die Spielregeln befolgt.«
Unter dem Laubwerk zeichneten sich die Umrisse der berittenen Gardians ab. Der eine kam ihnen entgegen. Es war Pierre, ein junger Bursche mit langem schwarzem Haar, der wie die Zigeuner einen goldenen Ohrring trug.
»Hallo, Pierre!« rief Tante Justine. »Wie geht’s heute morgen?«
»Mal so, mal so«, antwortete der Stierhüter.
»Gut, ich will einmal schauen«, sagte sie.
Die Tante ritt mit Pierre im Schritt voraus, die beiden Mädchen folgten ihnen.
»Da hinten sind sie«, sagte Mireille zu Karin.
Zu zweit und zu dritt standen die bulligen Stiere unbeweglich wie dunkle Felsen im hohen Gras. Sie wurden immer größer, je mehr sie sich auf den Pferden ihnen näherten. Karin schluckte leer. Angst drückte ihr die Kehle zu. Schon unterschied sie die mächtigen Rücken, die muskelstrotzenden Nacken, die nach vorn gerichteten säbelförmigen Hörner. Die Tiere schienen die Reiter mit den Blicken zu verfolgen, die Entfernung abzuschätzen.
Ab und zu schüttelten sie, von einer Bremse gereizt, wütend den massigen Kopf. Pierre rief sie beim Namen, um sie zu beruhigen, wenn ein Huf allzu streitsüchtig den Boden scharrte.
»He, Blitz! Schön brav, Tramontan!«
Die Zurufe schienen die großen
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