Pferde, Wind und Sonne
war der Motor verstummt. Die Haustür wurde von innen verriegelt, und gedämpfte Schritte kamen die Treppe herauf. Mireille ging ins Badezimmer. Karin hörte die Dusche rauschen, das Knirschen der Zahnbürste. Kurz darauf betrat Mireille auf den Zehenspitzen das Schlafzimmer. Die Matratze knarrte, als sie sich zu Bett legte. Dann war es Alain, der dieselben Geräusche im Badezimmer verursachte. Karin lag mit dem Gesicht zur Wand und stellte sich schlafend. Sie war innerlich völlig aufgewühlt. Ihre Wangen glühten, das Herz schlug ihr bis zum Hals hinauf. Sie glaubte zu ersticken. Ihren ersten Gedanken, Mireille ins Vertrauen zu ziehen, verwarf sie. Sie wollte ihr Geheimnis für sich allein bewahren. Karin biß sich auf die Lippe und vergrub sich unter der Decke. Im andern Bett räusperte sich Mireille, drehte sich ein paarmal um, und dann wurden ihre Atemzüge tief und regelmäßig: sie war eingeschlafen.
Erst jetzt hörte Karins Herzklopfen auf, und auch ihr Atem ging ruhiger. Sie fand endlich Zeit, über ihr Erlebnis nachzudenken. Eine Erklärung nach der anderen ging ihr durch den Kopf; aber > Glanzsterns< ungewöhnliches Verhalten blieb ihr ein Rätsel.
Plötzlich fiel ihr die sonderbare Bemerkung der alten Zigeunerin ein: »Ich sehe das Zeichen«, hatte sie gesagt. Stand es im Zusammenhang mit dem Ereignis in dieser Nacht? Nein, das war doch unsinnig, den Worten der Zigeunerin solche Bedeutung zu geben! Allmählich entspannte sie sich. Der Mond war untergegangen und das Quaken der Frösche verstummt. Im Eßzimmer unten schlug die Standuhr zweimal. Karin fielen die Augen zu, von Müdigkeit überwältigt, sank sie in Schlaf.
Siebentes Kapitel
Als Karin die Augen auf schlug, schwebte sie eine Weile lang zwischen Traum und Wachsein. Während sie fast mechanisch mit der Wirklichkeit Kontakt aufnahm, stand sie noch wie benommen unter dem Eindruck des aufregenden nächtlichen Erlebnisses.
Mireille hingegen schien frisch und ausgeruht zu sein. Der kurze Schlaf hatte genügt, um jede Spur von Müdigkeit zu verwischen. Karin fand sie im Badezimmer, wo sie sich die Augenbrauen zupfte, die auf der Nasenwurzel wuchsen. »Bist du auch schon wach, Karin? Wir haben ein paar Freunde getroffen und noch bis Mitternacht getanzt«, berichtete sie. »Hast du uns denn nicht gehört?«
»Nein«, log Karin, während sie die Zähne putzte.
Mireille warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Du bist so komisch. Was ist los mit dir?«
»Nichts.« Karin zog sich das T-Shirt über ihr glühendes Gesicht. »Ich... ich habe schlecht geschlafen, weiter nichts.«
Mireilles Zähne glänzten. »Du hättest mit ins Pinedo kommen sollen! Nach zwei Stunden Rock hättest du wie ein Wickelkind geschlafen.«
Tante Justine - in Jeans und Gummistiefeln - schenkte Kaffee e in. Alain, der weniger ausgeschlafen zu sein schien als seine Schwester, gähnte ununterbrochen. Tante Justine hatte es eilig; sie wollte den Verlad der beiden Stiere >Caraque< und >Blitz< überwachen, die morgen nachmittag an den Stierkämpfen in Aigues-Mortes teilnehmen sollten.
»Ich gebe euch drei Minuten, um die Pferde zu satteln!« Karin! nippte mit verlorenem Blick an ihrem Kaffee. Der Ellbogenstoß, den Mireille ihr versetzte, bewirkte, daß sie sich verschluckte.: »He, schläfst du noch immer? Willst du zu den Stieren kommen oder nicht?«
Tante Justine musterte Karin unter dichten Brauen hervor. »Du siehst ziemlich blaß aus; wenn du nicht in Form bist, ruh dich besser aus.«
»Was haben die eigentlich, daß sie mich alle für einen Waschlappen halten?« dachte Karin ärgerlich. Sie verschlang ihr Brot mit drei Bissen und leerte im Nu ihre Tasse. Natürlich wollte sie zur Weide mitkommen! Sie vermied es, Alains Blick zu begegnen, aus der unsinnigen Furcht heraus, er könne ihr Geheimnis von ihrem Gesicht ablesen. »Wenn er wüßte, daß ich >Glanzstern< gestreichelt und seine Wunden verbunden habe...« Karin selbst konnte es kaum glauben.
Als sie auf der Weide ankamen, hatten die Gardians die beiden Stiere bereits von der Herde abgesondert. >Caraque< und >Blitz<, junge Stiere mit üppigem krausem Fell, warteten jeder in einem besonderen Pferch, die vor der weißen Mauer einer Hütte angebracht waren. Kurz darauf rumpelten zwei Lastwagen den Weg herauf. Sie hielten vor einem vom Pferch herführenden, mit Brettern verschlagenen Laufsteg.
Der Lärm und die Unruhe weckten das Mißtrauen der Stiere. Witternd und schnaufend starrten sie auf den
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