Pferde, Wind und Sonne
sich. Ein Rind, dessen spitze Hörner mit Kugeln versehen waren, schoß wie ein Pfeil hindurch. Graziös, leichtfüßig und nervös galoppierte es rings um den Platz. Junge Männer liefen ihm Arme schwingend und aufstampfend entgegen. Sobald das Rind auf sie zuraste, stoben sie auseinander und stießen Schreckensrufe aus. Mireille und Alain brüllten mit den andern. Sie sprangen in die Arena, dem Tier genau vor die Nase, und sprangen im letzten Augenblick auf die Barriere, um sich in Sicherheit zu bringen. Das kräftige Rind griff unaufhörlich mit gesenkten Hörnern an. Bald erreichte der Tumult seinen Höhepunkt. Obwohl Karin gerne an dem Spiel teilgenommen hätte, wagte sie sich nicht in die Arena; sie hatte Angst, zu stürzen, unter die Hufe des Tieres zu geraten oder sich an der Barriere die Nase blutig zu schlagen. Schließlich wurde das Rind abgeführt. Der erste Stier betrat die Arena. Der eigentliche Wettkampf begann. Von der untersten Sitzreihe aus, eingeklemmt zwischen Alain und Mireille, die noch ganz außer Atem waren, bewunderte Karin den Auftritt der ganz in Weiß gekleideten »Razeteurs«. Mit ihren leichten, anmutigen Bewegungen schienen sie die Angriffe des wütenden Stiers zu verspotten. Es floß kein Blut; die Männer waren nur mit dem »Razet« ausgerüstet, einem kleinen, vierzinkigen Haken, mit dem sie dem Stier die zwischen den Hörnern befestigte Kokarde entreißen mußten. Nachdem >Blitz< hinter dem Toril verschwunden war, hielt >Caraque< langsam, majestätisch seinen Einzug. Ein bewunderndes Gemurmel ging durch die Zuschauermenge, als der mächtige Stier umherblickte, gereizt durch den Lärm, der ihm entgegenschwoll. Er stürzte sich instinktiv auf die Weißen, geschmeidigen Gestalten. Mit ausgebreiteten Armen, wie Vögel im Flug, liefen die »Razeteurs« vor ihm her, wandten sich plötzlich ihm zu und versuchten, die Kokarde abzureißen und blitzschnell hinter der Barriere Schutz zu suchen. Mehrmals schrien die Zuschauer auf, wenn ein »Razeteur« mit einem Luftsprung dem mörderischen Stoß der Hörner wie durch ein Wunder entging. >Caraque< griff unablässig an, doch nach und nach verließen ihn seine Kräfte. Vor Erschöpfung keuchend, stand er da, ohne die Überlegenheit seiner unangreifbaren Gegner zu verstehen.
»Jetzt ist er erschöpft«, sagte Mireille.
»Es wird wohl einige Tage dauern, bis er wieder angriffslustig ist.«
Aber >Caraque< zeigte Charakter. Obwohl er besiegt war, weigerte er sich, dem Leitochsen ins Toril zu folgen. Constantin und Nicolas mußten in die Arena steigen, um ihn unter dem Jubelgeschrei der Menge mit dem Dreizack zu stoßen, bis er endlich geruhte, sich erhobenen Hauptes zurückzuziehen. Donnernder Beifall begleitete seinen Abgang.
Alain blickte sich stolz um. »Tante Justines Stiere gehören zu den berühmtesten! Dieses Jahr soll >Caraque< auch in Sète und Nîmes kämpfen.«
Über den weiteren Verlauf des Tages bewahrte Karin nur eine unklare Erinnerung. Nachdem >Caraque< und >Blitz< wieder verladen waren, um auf die Weide zurücktransportiert zu werden, trafen sich die Viehzüchter und Gardians in Aigues-Mortes in einem Restaurant. Die Tische standen unter Platanen, an denen Lampen hingen. Alle redeten und lachten gleichzeitig. Karin fing nur ein paar Brocken von der in provenzalischer Sprache geführten Unterhaltung auf; für sie sprachen sie viel zu schnell. Es gab Fischsuppe, ein provenzalisches Fischgericht, dazu Mayonnaise aus Olivenöl, arlesische Bratwurst, die in öl schwamm, und Safranreis. Karin stopfte sich voll, wobei sie sich fragte, wie man sich das alles eigentlich einverleiben konnte. Sie hatte Wein getrunken; alles drehte sich, und die Knie wurden weich. Auf den Stuhl hingesunken, betrachtete sie blinzelnd den Himmel, der sich rosa färbte, dann verdunkelte, während die Lampions plötzlich aufleuchteten. Ihre Gedanken schweiften im Nebel umher, aus dem manchmal >Glanzsterns< Gestalt auftauchte. Die beunruhigende Frage »Wie geht es ihm nur?« verflüchtigte sich mehr und mehr. Unter der Wirkung des Weines nahm ihr Erlebnis seltsame Traumfarben an. Umgeben vom Stimmengewirr, dem Echo des Gelächters und dem scharfen Fettgeruch, wußte sie bald nicht mehr, ob sie die nächtliche Begegnung wirklich erlebt oder nur erfunden hatte.
Achtes Kapitel
Am folgenden Morgen erschien Karin mit geschwollenen Augenlidern, schwerer Zunge und einem dicken Pickel auf der Nase zum Frühstück. Sie war es nicht gewohnt, bis spät in
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