Pferde, Wind und Sonne
wie die Zigeunerin den freien Platz zwischen den Bäumen durchquerte und auf >Glanzstern< zuschritt. Der Hengst hob mißtrauisch den Kopf. Die Wölbung seines Halses streckte sich, während er tief die Luft einzog. Thyna legte zwei Finger an ihre Mundwinkel und ließ einen raschen, schrillen Pfiff ertönen. >Glanzstern< spitzte aufmerksam die Ohren. Thyna pfiff weiter, jetzt leiser und sanfter. Es war ein sonderbarer, betörender Lockruf. Staunend sah Karin, wie der Hengst sich einen Schritt vorwärtsbewegte, dann noch einen. Thyna pfiff ununterbrochen in leichtem, melodischem Rhythmus. >Glanzstern< bog den Hals zu ihr hin. Sein Kopf war jetzt mit dem der Zigeunerin in gleicher Höhe. Langsam hob Thyna den Arm und legte die offene Handfläche an seine Stirn. Obgleich der Hengst gewöhnlich bei der geringsten Berührung zurückschreckte, machte er keinen Versuch zu entweichen. Doch als sich die Hand zwischen seine Ohren legte, zuckte er zusammen und zitterte so heftig, daß seine Beine schwankten. Seine Muskeln gaben nach. Es war, als würde er unter einer Last zusammenbrechen. Ganz plötzlich zog Thyna die Hand zurück. >Glanzstern< blieb unbeweglich stehen, wie in lähmender Betäubung versunken.
Thyna wandte den Kopf und rief Karin zu: »Komm jetzt!« Karin folgte gebannt.
»Komm«, fuhr Thyna fort, »und leg ihm den Seden an. Hab keine Angst, er wird dich nicht beißen.«
Verstört, unbeholfen tat Karin, wie ihr geheißen. >Glanzstern< öffnete das Maul, so daß sie ihm mühelos die Leine anlegen konnte. Sein Verhalten war merkwürdig starr. Feuchte Flecken zeigten sich auf den Flanken, die sich viel zu schnell hoben und senkten. Karin begriff überhaupt nichts, wagte aber keine Fragen zu stellen.
»Jetzt kannst du ihn besteigen«, sagte Thyna.
Ungeschickt umfaßte Karin die Mähne. Thyna bückte sich, ergriff Karins Fuß und half ihr mit kräftigem Schwung auf den Rücken des Pferdes. Sie spürte die zitternden Muskeln, das schweißbedeckte Fell. Es war ihr, als hätten sie und das Pferd ein und dieselbe Haut.
»Laß ihn laufen!« sagte Thyna.
Zaghaft drückte Karin die Knie an die bebenden Flanken. Ruhig, zögernd schritt der Hengst vorwärts. Sie führte ihn den Sumpf entlang. Dann, als sie sich sicherer fühlte, trieb sie ihn mit leichtem Fersendruck an. >Glanzstern< beschleunigte seine Schritte, gehorchte und bog nach rechts oder links ab. Mehr und mehr spürte Karin sich eins werden mit ihrem Reittier. Ihre Knie, Schultern, Hüften folgten seinen Bewegungen. Karin vergaß Thyna, vergaß alles, was außerhalb dieses Einvernehmens lag. Ein bestimmter Fersendruck jagte den Hengst vorwärts. Die wehende Mähne, die nach Algen und Salz roch, peitschte Karins Gesicht. Sie fühlte sich über das Gras schweben. Aber die Lichtung war zu klein, das Unterholz bildete ein undurchdringliches Hindernis. Karin zog leicht den Seden an. >Glanzstern< verlangsamte seinen Schritt, machte kehrt und ließ sich geduldig zu der Stelle führen, wo die Zigeunerin wartete. Atemlos, mit klopfendem Herzen zügelte Karin das Pferd vor ihr.
Thyna nickte zufrieden. »Du kannst ihn jetzt ohne Gefahr reiten. Mach mit ihm, was dir beliebt. Er wird dir immer gehorchen. Aber vergiß nie, daß er sein eigener Herr bleiben muß. Du darfst ihn niemals satteln oder ihm Fesseln anlegen.«
Mit trockenem Mund wagte Karin endlich eine Frage: »Haben... haben Sie ihn hypnotisiert?«
»Hypnotisiert?« wiederholte die Alte das Wort Karins gleichgültig. »Zigeuner sind fähig, Tiere zu bändigen, aber ohne ihren Stolz zu verletzen.«
»Aber woher haben Sie diese Gabe?«
»Von meiner Mutter, und diese lernte es von ihrer Mutter.« Karin sah, wie ein Schatten über ihr Gesicht zog. »Ich habe keine Tochter, der ich es beibringen könnte. Ich habe einen Sohn, aber Söhne zählen nicht. Männer bauen die Welt auf oder zerstören sie. Nur die Frauen sind Hüterinnen uralter Geheimnisse...« Karin starrte sie betroffen an. Es gab Augenblicke, wo ihr die Alte etwas unheimlich wurde. In ihrer Feinfühligkeit mußte Thyna es gespürt haben, denn sie lachte kurz.
»Keine Angst, Mädchen! Ich habe dir ein Geschenk gemacht, weil du mir gefällst. Du hast Achtung vor den Tieren, die wertvoller sind als ein großer Teil der Menschheit. Laß nun, es wird Zeit, zum >Mas< zurückzukehren.«
»Dein Pferd!« Karin hörte die Worte wie im Traum. Vorsichtig ließ sie sich zu Boden gleiten. >Glanzstern< legte den Kopf an ihre Schulter. Er schwitzte nicht mehr.
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