Pferde, Wind und Sonne
»Au!«
Mireille blickte sie sonderbar an und fragte: »Hast du auch gut geschlafen?«
Karin glaubte einen spöttischen Unterton in ihrer Stimme zu hören, aber sie zwang sich, nichts merken zu lassen. »Nicht besonders«, stotterte sie. »Ich habe ... ich habe eine Beule. Ich muß mit dem Kopf an die Wand geschlagen sein!«
»Allerdings«, antwortete Mireille ironisch. »Ich hörte mitten in der Nacht ein Geräusch.« Sie machte eine kurze Pause und fügte dann beiläufig hinzu: »Als ich nach dir sah, war das Bett leer...« Karins Gedanken wirbelten durcheinander. Sie wußte nicht, ob sie bleich oder knallrot war.
»Mir war schlecht. Ich mußte... mußte aufs Klo!«
»Das war aber eine lange Sitzung«, gab Mireille trocken zurück. »Vermutlich hattest du Durchfall! Vielleicht durch die Beule, oder umgekehrt?«
Raus war sie! Karin blieb mit offenem Mund zurück. Sie stand auf und wankte ins Badezimmer. Womöglich bekam sie jetzt wirklich vor lauter Aufregung Durchfall! Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte ihr eingefallenes Gesicht, die roten geschwollenen Lider.
Sie teilte das Haar, um ihre Beule zu betrachten; die Stelle war ganz blau. Verkrustetes Blut klebte an der Kopfhaut.
Karin zog ihren verschwitzten Pyjama aus und stand lange unter der warmen Dusche. Endlich fühlte sie sich besser.
Als sie etwas später in den Hof kam, war Tante Justine gerade dabei, mit Jackies und Manuels Hilfe >Trotzkopfs< Huf zu untersuchen. Alain stand verlegen daneben, während Mireille schlecht gelaunt einen Gummi kaute.
»Also das ist es... jetzt sehe ich!« brummte schließlich Tante Justine. »Ein Schilfsplitter steckt im Huf. Das muß schon vor zwei, drei Tagen geschehen sein, denn die Wunde hat sich entzündet. Wenn einem ein Pferd anvertraut wird, mein Junge, dann sollte man sich besser darum kümmern.«
Alain schwieg. Tante Justine atmete angestrengt. »Jackie, hol eine Pinzette und ein Desinfektionsmittel«, befahl sie. »Der Fremdkörper muß entfernt werden. Wir wollen hoffen, daß wir den Tierarzt dazu nicht brauchen. Nimm den Zügel!« rief sie Alain aufgebracht zu.
Einen Augenblick später kam Jackie zurück und brachte die gewünschten Dinge. Dann half er Manuel, das Pferd zu halten. >Trotzkopf< rollte ängstlich die Augen, wehrte sich aber nur schwach. Mit erstaunlicher Kraft hob Tante Justine das Bein des Pferdes und drückte es an sich. Dann kniff sie die Augen zusammen, um die richtige Stelle zu erkennen, und zog mit unglaublicher Geschicklichkeit einen großen Rohrsplitter aus dem Fuß des Pferdes.
Eiter und Blut quollen aus der Wunde. Ein Zittern durchlief den Körper des Tieres.
»Gut festhalten!« keuchte Tante Justine.
Rasch desinfizierte sie die Wunde und legte einen Verband an. »Achte gut darauf, wie ich es mache«, sagte sie zu Alain. »Du mußt den Verband morgens und abends erneuern, um die Entzündung auszuheilen. Ein paar Tage darf >Trotzkopf< nicht geritten werden. Verstanden?«
»Ja«, antwortete Alain bedrückt. »Kann ich ein anderes Pferd nehmen?«
»Damit du das auch lahm reitest?« Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht. »Ein Pferd ist ein lebendiges Wesen, für das du die Verantwortung trägst.« Sie versetzte >Trotzkopf< einen liebevollen Klaps und wusch sich an der Pumpe die Hände. »Gehen wir frühstücken«, sagte sie dann.
»Du hättest sicherlich lieber einen Schwarztee als Kaffee?« fragte Mireille zuckersüß Karin. Diese grinste blöde. Also gut: Sie mußte sich mit der Tatsache abfinden, daß Mireille in der Nacht ihr Verschwinden bemerkt hatte. »Aber hat sie mich auch fortreiten sehen?« fragte sich Karin.
Ihre Freundschaft und das gegenseitige Vertrauen verlangten von ihr, daß sie Mireille unumwunden die Wahrheit sagte. Jedoch in der kommenden Nacht erwartete sie Thyna. Sie durfte das Versprechen der Zigeunerin nicht brechen und ihr Geheimnis nicht preisgeben. Schweren Herzens schwieg sie. In ihrer Verlegenheit wagte sie weder den Mund aufzutun noch Mireilles Blick zu begegnen. »Morgen werde ich ihr alles sagen«, dachte sie. »Und was Alain betrifft...« Sie biß sich auf die Lippe und schob alle weiteren Gedanken von sich. »Morgen«, wiederholte sie, »morgen bestimmt!«
Im Laufe des Tages wurde die Stimmung noch gedrückter. Mireille war ungenießbar. Alain, der auf sein Reittier verzichten mußte, wußte nichts mit sich anzufangen und ging allen auf die Nerven.
Am Nachmittag wechselte er >Trotzkopfs< Verband. Während Regine und
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