Pferde, Wind und Sonne
vor, als ob das Wasser sich hob und senkte. Die kaum spürbaren Schwankungen folgten dem Hin- und Herwogen der Fluten. »Das Meer atmet«, dachte sie, drehte sich auf den Rücken und ließ sich von den schaukelnden Wellen tragen.
Eine Welle erfaßte sie; sie schluckte Wasser, hustete und spuckte es wieder aus. Ihre Füße berührten den sandigen Grund. Vom Strand her sah eine unbewegliche, dunkle Gestalt zu ihr herüber: Thyna.
Karin trat aus dem Wasser und zwängte sich mühsam in die Kleidungsstücke.
»Komm«, sagte Thyna. »Und laß dein Pferd nur hier, es wird nicht weglaufen. Aber hol ein Seil.«
Sie machte sich auf den Weg, und Karin ging vor Nässe schlotternd mit ihr. Die Zigeunerin lief leichtfüßig und schnell vor ihr her. »Sie hat den Gang einer jungen Frau«, dachte Karin. Thyna überquerte rasch die Dünen, ohne zu keuchen oder im Schritt langsamer zu werden. Sie sagte nichts, und Karin wagte keine Fragen zu stellen. Bald versanken ihre Füße im schwammigen Boden. Sie bahnten sich einen Weg durch das knisternde, hohe Schilf, das Gesicht und Arme peitschte. Plötzlich hielt Thyna an. Vor ihnen zog sich ein Kanal hin, der in einen See überging. Die Alte deutete Karin an zu warten. Sie trat ins Wasser und zog einen Kahn, der im Dickicht verborgen lag, ans Ufer. Stumm forderte sie Karin auf einzusteigen. Karin folgte ihr und setzte sich auf die wurmstichigen Planken. Stehend stieß Thyna mit der Stange ins Wasser. Leicht plätschernd löste sich der Kahn von der Böschung und trieb in die Mitte des Kanals. Sie glitten zwischen den Ufern dahin. Geruch nach Fäulnis stieg vom Wasser auf. Hie und da schreckte das Knarren der Planken die schlafenden Vögel im Schilf auf. Karin hörte ihr aufgeregtes Piepsen und Flügelschlagen.
Nach einer Weile zog Thyna ihre Stange zurück und ließ das Boot in einer leichten Strömung weitertreiben. Erst jetzt wagte Karin zu sprechen.
»>Glanzstern<, wo ist er? Warum ist er nicht am Strand?«
»>Schwarz< maßt sich die Herrschaft über die Herde an. Wenn
>Glanzstern< Herr der Stuten bleiben will, wird er kämpfen müssen.«
Pierre hatte sich also nicht getäuscht! Der Kampf zwischen den beiden Rivalen stand bevor.
»Tante Justine ist um das Leben von >Schwarz< besorgt«, sagte sie. »Morgen will sie mit jemandem in Aigues-Mortes sprechen. Sie hofft, >Glanzstern< verkaufen zu können.«
»Menschen sollten sich nicht in die Angelegenheiten der Tiere mischen«, erwiderte Thyna und zog ihre schmalen Schultern hoch. Sie nahm wieder ihre Stange und stieß den Kahn auf das Ufer zu. Karin hörte das Schilf knistern und den Rumpf auf die Kieselsteine aufstoßen... Die Zigeunerin sprang behende ins seichte Wasser. Sie zog den Kahn hinauf und befestigte das Seil um einen großen Stein. Dann forderte sie Karin auf auszusteigen. Durch den Schlamm watete sie ans Ufer. Das Wasser gluckste in ihren Schuhen. Dann fühlte sie festen Boden unter den Füßen. Stumm folgte sie der Zigeunerin, die ihr vorausging und mit beiden Armen das Schilf zur Seite schob. Leichtes Wiehern war plötzlich in der Dunkelheit zu hören.
Thyna hob die Hand und flüsterte: »Sei leise!«
Karin hielt den Atem an. Sie schritten auf einem schmalen Sandstreifen durch die Sümpfe, der zwischen hohen Gräsern, Schilf und Blätterbüschen versteckt lag.
Thyna blieb so unvermittelt stehen, daß Karin fast gegen sie geprallt wäre. Vor einer dunklen Tamarindenkulisse bewegten sich ruhig die großen, hellen Gestalten der Pferde. Einige ruhten am Boden, andere grasten, tranken oder zogen gemächlich von Strauch zu Strauch, von Tümpel zu Tümpel. Obwohl die Herde ihre Anwesenheit bemerkt haben mußte, schien keines der Pferde ihnen Beachtung zu schenken.
Plötzlich ertönte ein Aufstampfen von Hufen, dann ein schrilles, herausforderndes Wiehern. Ein fauchendes Schnauben in nächster Nähe ließ Karin zurückweichen. In vollem Galopp streifte sie ein Pferd. Als es streitsüchtig die Mähne schüttelte, erblickte sie einen schwarzen Fleck auf seiner Stirn. Fast gleichzeitig bewegte sich auf der anderen Seite das Gebüsch. Langsam trat >Glanzstern< unter den Bäumen hervor. Seine Mähne schaukelte, der lange, dichte Schweif schlug an die Flanken. Ein dumpfes Schnauben ließ seine Kehle und seine Flanken beben.
»Sie fordern sich nun heraus; aber kämpfen werden sie heute nacht noch nicht«, sagte Thyna. »Warte hier.«
Karin kaute vor Aufregung an den Nägeln. Sie schwitzte und fror zugleich. Sie beobachtete,
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