Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
der Großteil der Hotelgäste
gefrühstückt. Sie ist froh, ihre Ruhe zu haben. Während sie ihren Kaffee genießt,
schaut sie aufs Meer hinaus. Das Meer als Verkörperung des Grenzenlosen. Ein Gefühl
der Wehmut erfasst sie.
Nach dem Essen sucht sie erneut
den Strand auf. Doch diesmal verschanzt sie sich mit einem Buch hinter einer Windschutzvorrichtung.
Schon bald überkommt sie eine wohlige Müdigkeit.
» Hello
Madam. You want drinks? Madam hello! Madam, can I bring
you drinks?«
Sie wacht
auf, als der dunkelhäutige Kellner ihren Arm berührt und ihr eine Wasserflasche
entgegenstreckt.
Sie träumte von ihrem verstorbenen
Vater. Er wollte, dass sie ihm folgte. Unvermittelt standen sie vor einem Abgrund.
Er deutete in die Tiefe, doch da war nur ein schwarzes Loch, ein schwindelerregendes
Nichts, das ihr große Angst machte. Doch die Panik war stumm, und sie wusste, dass
sie springen würde.
Alles im
Traum bist du selbst.
Das hat
sie irgendwo mal gelesen, doch sie kann sich keinen Reim auf das Geträumte machen.
Sie greift nach dem Buch, das sie in die Abgründe des Autors blicken lässt, und
so mischt sich das Treibgut ihrer Fantasie mit dem der Wirklichkeit.
2
Viktoria nutzt die Mittagsstunden,
um sich die Unterwasserwelt anzuschauen.
Um diese
Zeit sind die Riffs menschenleer. Sie stakst mit ihren Flossen durchs seichte Wasser.
Kaum ist es tief genug, schnorchelt sie los. Sie treibt über eine Riesenschildkröte
hinweg, die auf dem Meeresboden Seegras frisst.
Wie ein
Blick in den Himmel, denkt sie verwundert, als sie die von Korallen aus ihren Kalkskeletten
geschaffenen Strukturen erreicht, wo sich Fische, Würmer und Krebstiere tummeln.
Sie hat im Hotelprospekt gelesen, dass eine Koralle zehn Jahre braucht, um einen
einzigen Zentimeter zu wachsen.
Sie schnorchelt
am Rande des Riffs weiter. Ein Rochen hat sich auf dem seichten Meeresgrund im Sand
eingebuddelt und ist nur schwer auszumachen. Dafür kann sie in der Nähe einer Höhle
einen Blick auf einen Feuerfisch erhaschen.
Plötzlich
ist sie umgeben von riesigen Schwärmen buntschillernder Fische, die sich synchron
bewegen, wie die Instrumente eines fein aufeinander abgestimmten Orchesters. Verwundert
stellt sie fest, dass ihr Körper automatisch dieselben Bewegungen ausführt wie der
Fischschwarm.
Gemächlich
folgt sie den scharfen Kanten des zerklüfteten Riffs, dessen Löcher und Höhlen mit
farbenprächtigen Weichkorallen bewachsen sind, die für faszinierende Lichtspiele
sorgen.
Und dann
tut sich plötzlich eine beeindruckende Steilwand vor ihr auf. Sie schwebt am Rand
des Riffs über sie hinweg. Die Schwerelosigkeit kommt ihr unwirklich vor.
Bei einer
blauen Riesenmuschel, die sich verheißungsvoll einen Spalt geöffnet hat, verharrt
sie und lässt sich von deren Anblick gefangen nehmen.
Ein Schlag am Kopf holt sie unsanft
aus ihrer Versunkenheit. Dicht vor ihren Augen erblickt sie eine schwarze Flosse.
Erschrocken taucht sie auf und schiebt ihre Taucherbrille über die Stirn. Neben
ihr treibt die große Gestalt eines Schnorchlers. In seinen Händen hält er eine Unterwasserkamera.
»Können
Sie nicht besser aufpassen!«, fährt sie den Mann an, als sein Gesicht über der Wasserfläche
sichtbar wird.
»Tut mir
leid.« Kaum gesagt, widmet der Schnorchler sich wieder der Unterwasserwelt.
Viktoria
bringt ihre Taucherbrille in Position.
»Fragt sich
bloß, wer wen gerammt hat«, ruft der Fremde ihr zu, als er unvermittelt wieder neben
ihr auftaucht.
Ihr kommt
die Stimme bekannt vor, doch sie erkennt Valentin Möller erst, als er seine Schwimmbrille
hochschiebt. »Was machst du hier?«, ist alles, was sie herausbekommt.
»Wenn ich
nicht von Meeresungeheuern verfolgt werde, fotografiere ich die Unterwasserwelt«,
erwidert er schmunzelnd.
Das entlockt
ihr ein Lächeln.
»Du siehst
erschöpft aus. Soll ich dich zurückbegleiten?«, bietet er ihr an, als er sieht,
dass sie sich damit abmüht, die Balance zu halten.
Sie sieht
sich um und stellt erschrocken fest, dass sie sich weit draußen, an der uferabgewandten
Seite des weitläufigen Riffs befinden. Sie hat die Distanz unterschätzt und verspürt
plötzlich eine große Müdigkeit. Deshalb nimmt sie sein Angebot erleichtert an.
Endlich am Ufer angekommen, lässt
sie sich ermattet auf den warmen Sand fallen. »Puh, ganz schön anstrengend diese
Schnorchlerei.«
Valentin
gibt zurück: »Wenn man sich dem Wasser hingibt statt dagegen anzukämpfen, ist es
wie fliegen.
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