Pforten der Hoelle
grausam lebendig wie eh und je ...
* Lyn Shaa war ein Kind Nippons. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf, nicht weit von Tokio entfernt. Inzwischen mochte der gierige Millionenstadt-Moloch den Ort längst verschlungen haben. Sie wußte es nicht. Japan zählte zu den wenigen Ländern, die Lyn Shaa nie besucht hatte, seit sie zur Illuminati gehörte .
Trotz der Nähe zur Hauptstadt war das Leben in Lyn Shaas Heimatdorf nach anderen, nach alten Regeln abgelaufen. Traditionen waren mehr als nur Dinge, mit denen man sich schmückte. Man folgte ihnen und hielt sie in Ehren.
Zugleich aber trieb auf solchem Boden auch der Aberglaube mitunter absonderliche Blüten. Lyn Shaa wußte das nur allzu gut.
Dabei hatte alles harmlos, unscheinbar begonnen.
Mit dem Tod einer Katze .
Eines morgens hatte Lyn Shaa ihre Eltern geradezu bekniet, ihr kleines Kätzchen zum Doktor in die Stadt zu bringen. Es ginge ihm sehr schlecht, und wenn das Tierchen keine Hilfe bekäme, würde es sterben, hatte das Mädchen, gerade fünf Jahre alt geworden, weinend beteuert.
Natürlich hatte man dem Kind nicht geglaubt. Am Abend war das Kätzchen tot gewesen .
Weitere Ereignisse, sich in ihrer Bedeutung und Tragweite allmählich steigernd, waren gefolgt.
Zunächst hatten sich die Nachbarskinder einen Spaß daraus gemacht, Lyn Shaas Macht der Vorhersehung auf die Probe zu stellen. Und das Mädchen, glücklich über die Beachtung, die ihm zuteil wurde, hatte eifrig mitgetan und ein ums andere Mal kleine Dinge prophezeit, die sich ganz gewiß ereignen würden.
Daß Katos Kuh ein totes Kalb gebären würde, noch in derselben Nacht - und so war es geschehen.
Daß die alte Xia sich den Fuß brechen würde, wenn sie vom Geflügelmarkt zurückkam - es war geschehen.
Daß der Wagen des Burschen Zan, seines Zeichen größter Herzensbrecher des Dorfs, nicht mehr anspringen würde - so war es gekommen .
Nach einer Weile, es mochten vier oder fünf Wochen seit dem Tod ihres Kätzchens vergangen sein, interessierten sich nicht mehr nur Gleichaltrige für Lyn Shaas eigenartige Kunst. Auch Erwachsene suchten immer öfter die Nähe des Mädchens, um sich Rat in allerlei Hinsicht zu holen.
Freilich taten sie es nur heimlich, darauf achtend, daß kein anderer Dörfler sie bei Lyn Shaa sah, und das Schweigen des Mädchens erkauften sie sich mit kleinen Geschenken oder klingender Münze.
Und so sagte Lyn Shaa voraus, wann der beste Tag sei, um mit der Reisernte zu beginnen; ob es sich lohnte, gerade heute Nacht auf Brautschau zu gehen; was der sterbenskranke Großvater als letzten Willen verfügt hatte.
Immer absonderlicher wurden die Fragen, auf die Lyn Shaa Antwort geben sollte. Und schließlich wollte Wang, ein durchtriebener Kerl, sogar die Todesstunde des alten Li wissen.
Auch darauf hatte Lyn Shaa die Antwort gewußt.
»Heut' Nacht«, war es von ihren Lippen gekommen, sehr zu ihrem eigenen Entsetzen.
Am liebsten wäre das Mädchen losgelaufen, um den Bedauernswerten zu warnen. Doch Wang hatte sie zurückgehalten und beschwichtigt.
»Du tust es besser nicht«, hatte er sie gewarnt, »denn es möchte gut sein, daß du dich geirrt hast. Wenn du dem armen Li nun sagst, er würde heute sterben, dann könnte es angehen, daß er sich zu Tode ängstigt und daran stirbt. Daran willst du doch nicht die Schuld tragen, oder?«
Nein, das hatte sie nicht gewollt.
Anderntags war der alte Li tot aufgefunden worden. Mit einem Messer im Herzen.
Lyn Shaa hatte gewußt, wer es ihm hineingestoßen hatte, und Wang des Mordes bezichtigt! Nachweisen indes hatte man ihm die Tat nie können. Sein Haß auf Lyn Shaa jedoch fand kein Ende - und gebar grausame Früchte.
Vielleicht hätte es eine Möglichkeit gegeben, alles abzuwenden, doch Lyn Shaas Eltern hatten sich blenden lassen. Und sie selbst -nun, sie war nur ein kleines Mädchen gewesen, das geschehen ließ, was die Erwachsenen für recht und gut hielten .
Wang selbst war es, der die Künste des Mädchens offen bewarb. Und so kamen immer mehr Leute in die Hütte der Eltern, die wenigsten und immer weniger nur heimlich, um Ratschläge einzuholen. Und jeder einzelne ließ etwas bei der Familie - einen Laib Brot der eine, eine hübsche Puppe ein anderer, die allermeisten jedoch lohnten Lyn Shaas Worte mit barer Münze.
Nur auf eine Art von Fragen antwortete Lyn Shaa nicht mehr.
Nie nannte sie jemanden die Stunde seines oder eines anderen Todes .
Wang jedoch ließ Gegenteiliges verlauten. Ihm hätte das Mädchen sehr
Weitere Kostenlose Bücher