Pforten der Nacht
meinst, du kannst sie und uns davor schützen, indem du so schnell wie möglich Leas Verlobung und Hochzeit vorantreibst? Gar mit einem Mann, der ihr vielleicht nichts bedeutet? Sie unter der Chuppah , dem Hochzeitsbaldachin, stehen zu sehen, ohne zu wissen, ob das auch ihr Wunsch ist, wäre das nicht ein zu hoher Preis für deinen ruhigen Schlaf?«
»Sie ist so jung, Jakub«, sagte sie bittend, »und war so krank. Und wir haben sie immer beschützt und behütet, von Anfang an. Seit dem Tod ihrer Eltern. Was weiß sie schon vom Leben? Er wird gut zu ihr sein, das weiß ich, und sie nicht spüren lassen, dass sie …« Recha hielt inne. Sie konnte es nicht aussprechen. Noch immer nicht.
»… eine Lahme ist. Und hinkt. Entstellt ist, trotz ihrer wunderschönen Augen, ihres prachtvollen Haars. Und ihres Wesens, das man einfach lieben muss, wenn man kein Stein oder Eisbrocken ist. Das wolltest du doch sagen, oder?«
Jakub wischte ihre Tränen weg, die nun reichlich zu fließen begannen.
»Also, meine Taube, wenn es dir ein solches Anliegen ist, dann werde ich mit ihm reden, diesem Aaron.« Sie begann erleichtert zu lächeln. »Und mit Lea, freu dich nicht zu früh, mit Lea erst recht! Schließlich will ich, dass unsere Tochter glücklich wird. Du etwa nicht?«
Recha schmiegte sich fest an ihn und spürte durch sein Leinenhemd jeden einzelnen seiner Knochen. Keine breite Schulter hätte ihr mehr Trost sein können.
»Was glaubst du denn, du Dummkopf?«, sagte sie zärtlich. »Was glaubst du eigentlich?«
Kerzenlicht, dutzendfach. Hundertfach. Im warmen Schein erglühten die prachtvollen Wandbilder der Unterkirche von San Francesco in satten, reichen Tönen. Dazu der dunkle, ehrfürchtige Chor der Männerstimmen in schönem, klarem Latein.
»Adoramus te domine …«
Sein Herz schlug schnell und hart gegen den Brustkorb. Er schwitzte und fror zugleich, aber es war ihm gleichgültig. Dass er hier war! Dass er das miterleben durfte! Dass er endlich nach Hause gefunden hatte, dort, wo er wirklich hingehörte!
Seit Tagen war Johannes van der Hülst immer wieder zum Langhaus der Grabkirche des Heiligen hinabgestiegen, aber erst heute, in dieser Nacht vor Fronleichnam, offenbarte sich ihm das ganze Geheimnis ihrer Schöpfung. Seine Augen flogen von den Fresken auf der rechten zu denen auf der linken Wand; rechts die Leidensgeschichte Christi, gegenüber Szenen aus dem Leben des heiligen Franz. Auf einmal verstand er, nein, erlebte er in seinem Herzen, was die Bilder ihm sagen wollten: Die Passion Jesu und der Lebensweg des Franziskus gehörten untrennbar zusammen. Zu seiner Verblüffung und Entzückung zugleich erschien es ihm wie ein Teil seiner eigenen Geschichte, ein Weg, den er freilich noch mutig und entschlossen zurücklegen musste.
Er hatte keine Angst mehr. Und jeder Zweifel, jedes Zögern waren Vergangenheit. Seine Seele brannte. Lichterloh.
Jetzt war er zum bedingungslosen Liebesdienst bereit.
»Ich habe nicht Vater noch Mutter«, murmelten seine Lippen tonlos, während sich die Stimmen der Mönche zum »Christus resurrexit« erhoben, und es war mehr als ein Versprechen, es war ein heiliger Schwur. »Kein Haus, kein Kleid. Ich habe nur Gott. Ich zerreiße die Ketten, die mich an diese Erde binden. Mein Vater ist Gott. Sonst niemand.«
Er starrte auf die blutenden Wundmale des gemalten Ordensstifters. Jenem hatte der Heiland die getreue Nachfolge erlaubt; ihn mit seinen eigenen Stigmata gesegnet. Für diese höchste aller Auszeichnungen hatte Franziskus sich mit dem Sonnengesang bedankt, das schönste und ergreifendste aller Gebete, die Johannes jemals gehört hatte. Die Mönche sangen es jetzt, jubelnd, ekstatisch, als letztes ihrer Lieder, bevor sich die Türen des Portals öffnen und der Zug der braunen Kutten mit der goldenen Monstranz hinaus in die Morgendämmerung treten würde.
»Laudato si, mi signore, per frate focu,
per lo quale enn’allumini la nocte,
ed ello é bello et iocundo et robustoso et forte …«
Der Minorit, der die Monstranz hinaus in den ersten Morgen trug, war ein junger Priester, kurz nach der Weihe, nicht viel älter als Johannes. Sein Gesicht war ruhig und gesammelt; seine Augen aber leuchteten. Die Brüder hinter ihm hatten die Kapuzen abgestreift; ihre rasierten Schädel waren demütig geneigt.
Er zögerte einen Augenblick, sich ihnen anzuschließen, tat es aber doch. Schon hatten sich zahlreiche Gläubige zu beiden Seiten des Weges eingefunden, den ganzen,
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