Pforten der Nacht
weiten Weg von der Richtstätte, auf der man San Francesco gebaut hatte, bis hinein in die Mitte der Stadt und wieder zurück zur Grabkirche. Fahnen wehten an den girlandengeschmückten Häusern, Blumenteppiche zierten alle vier Zwischenaltäre, an denen eine Andacht gehalten und der Segen gespendet wurde, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind trug das schönste Festgewand.
Das Kleid aber, nach dem es Johannes verlangte, war ebenjene einfache braune Kutte, der Strick um den Leib, die abgelaufenen Sandalen an den bloßen Füßen.
»Heilige Herrin Armut«, murmelte er, »nimm mich auf in deinen wohltätigen Schoß! Ich will keinen anderen Reichtum als dich allein. Gewähre mir die Güte, dass ich künftig immer hungern, stets frieren werde und niemals einen festen Platz bekomme, wohin ich mein Haupt betten kann.«
Plötzlich verspürte er einen Stoß und strauchelte. Bevor er sich noch richtig fassen konnte, einen zweiten, so stark, dass er zu Boden stürzte.
Und nicht nur er. Die Mönche vor ihm fielen übereinander wie die Blätter eines windigen Kartenhauses, und von den niedrigen Gebäuden entlang des Weges rollten Steine. Ein paar schrien, andere fluchten, Weinen wurde laut. Entsetztes Rufen. Auch der Monstranzträger lag am Boden; das kostbare goldene Gefäß bedeckte sein Antlitz.
Johannes, der sich mühsam aufrappelte, kam nur ein paar Schritte vorwärts, dann stürzte er erneut. In seinem Innersten aber jubelte es. Das war das Zeichen, um das er gefleht hatte! Endlich hatte er es erhalten. Christus selbst hatte ihn erwählt, sprach zu ihm.
»Herr, erbarme dich«, betete Johannes ergriffen, »aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Ich bin dein Knecht. Dein Werkzeug. Dein Geschöpf. Tu mit mir, was immer du willst - ich werde gehorchen!«
Die Stöße kamen heftiger, schneller hintereinander. Jetzt krachte ein ganzes Haus in sich zusammen; die Mönche klammerten sich aneinander und pressten sich blindlings gegen das Erdreich. Auch Johannes barg den Kopf in seinen Armen, um Schutz zu finden. Seltsamerweise fühlte er sich ganz ruhig; sein Geist war wach und klar.
Wie hatte er an der Güte Gottes, an der unendlichen Gnade Christi nur zweifeln können? Wie konnte er so lange nach einer Vergebung seiner Sünden jammern, die doch längst erfolgt war - nicht, weil er sie verdiente, sondern weil die Liebe des Allmächtigen ewig und unendlich war! Selbst wenn er jetzt sterben musste, wenn er unerträgliche Schmerzen erleiden würde, wenn es Gott gefallen würde, ihn erst viel später zu sich zu rufen, nach einem Leben voller Qual und Pein, er war dankbar, er nahm es voller Demut an!
»Nimm mich, o Herr«, murmelte er, »ich bin dein! Dir gehöre ich. Für immer und ewig.«
Ruhe senkte sich über ihn, während die Steine prasselten, Äste brachen, während Menschen um ihn herum jammerten und weinten. Ein köstlicher, tiefer, seliger Frieden. Plötzlich verstand er, was de Berck ihm vor langer Zeit an einem warmen Herbstabend gesagt hatte.
»›Nimm dich doch, wo du bist, und lass dich ausatmend ins heile Ganze zurückströmen …‹«
Ja, jetzt floss er, jetzt strömte es in ihm! Sein »Ich« war verschwunden, jener quälende, fordernde, unzufriedene Teil, der ihm stets zu schaffen gemacht hatte. Er war Teil der Schöpfung, Teil des Lebens. Teil des einzigen und ewigen Gottes, untrennbar mit ihm verbunden.
Er weinte. Niemals im Leben war er glücklicher gewesen.
Kaum waren die Stöße vorüber, war Johannes der Erste, der aufsprang und nach dem Priester schaute. Er schien ohnmächtig; das Glas der Monstranz war gesprungen und hatte auf seiner blassen Wange einen langen, blutigen Kratzer verursacht. Jetzt erst erfasste ein leises Zittern Johannes, das unaufhaltsam wurde, als er vorsichtig die geweihte Hostie in seinen Händen barg.
Der Leib des Herrn! Das Fleisch Christi!
Wie von selber kamen die Worte zu ihm zurück, die der Erzbischof sie damals vor der österlichen Büßerprozession hatte aufsagen lassen und die er nachgeplappert hatte, ohne sie wirklich zu verstehen. Jetzt aber erreichten sie ihn, erst jetzt ergaben sie wirklich Sinn.
»Geliebter Christus«, betete er laut, ohne sich um die Umstehenden zu kümmern, die sich langsam aufgerappelt und ihn nach und nach umringt hatten, »gewähre mir diese eine, diese höchste Gunst: Lass mich an meinem Leib und in meiner Seele deinen Schmerz und deine heilige Passion fühlen.«
Seine Augen verdrehten sich und wurden ganz weiß. Schaum trat vor
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