Pforten der Nacht
Tag, an dem sie ihn nicht besucht hätte. Anna genoss die Ruhe in dem dämmrigen Seitenschiff und störte sich nicht an der harten Holzbank, auf der sie knien musste. Nur hier kamen die quälenden Wirbel in ihrem Kopf allmählich zur Ruhe, nur hier war sie fähig, wieder halbwegs klar zu denken. Für Außenstehende mochte es so aussehen, als würde sie beten; in Wirklichkeit aber schickten ihre Lippen stumme Fragen zu der Engelsstatue, und mehr als einmal glaubte Anna, tatsächlich lautlose Antwort von ihrem Micha zu erhalten.
Johannes hatte sie seit jenem schrecklichen Abend kein einziges Mal mehr gesehen. Er mied den »Schwan« und hielt sich peinlich von allen ihren gemeinsamen Lieblingsplätzen fern. Nicht einmal zufällig lief er ihr über den Weg. Selbst als Anna all ihren Mut zusammengenommen und an die Pforte seines Elternhauses in der Kaufmannsgasse geklopft hatte, lautete die Antwort einer mürrischen Magd, er sei für einige Zeit unterwegs und daher nicht zu sprechen.
Eisige Angst fuhr ihr ins Gedärm. »Etwa schon in Richtung Italien?«
»Nein, die Kisten für seine Abreise werden noch gepackt. Nach dem Osterfest verlässt er die Stadt.« Sie kniff die Lippen zusammen, als habe sie bereits zu viel verraten. Was ging die Kleine mit den blau verfärbten Fingern an, dass er sich im hiesigen Minoritenkloster aufhielt?
»Und Frau Bela?« Die Frage war heraus, bevor Anna lange hatte überlegen können. Sie erschrak abermals. Was sollte sie der eitlen Dame schon sagen?
»Die erst recht nicht, was glaubst du denn? Die Herrin ist leidend und muss das Bett hüten.« Die blonde Magd musterte das Mädchen im einfachen Barchent abschätzig, als habe sie es noch nie zuvor gesehen. »Sonst noch was?«
»Nein. Nichts.«
Anna hätte schwören können, dass ihr aus mehr als einem der vielen blanken Fenster neugierige Augen nachschauten, aber als sie sich umdrehte, konnte sie nichts entdecken.
Seine Feigheit tat ihr weh, aber überraschte sie nicht, wenn sie ganz ehrlich war. Oft genug hatte sie schon früher mitansehen müssen, wie Johannes sich nach großen Reden gedrückt hatte, für Streiche und übertretene Verbote geradezustehen. Und das, was er ihr angetan hatte, war alles andere als ein Streich. Um so schmerzlicher, dass er sie radikal verleugnete. Er hatte sie benutzt wie rohes Fleisch, schlimmer als ein Stück Vieh. Und jetzt tat er, als ob sie gestorben wäre. Oder, schlimmer noch, niemals existiert hätte.
Ein quälender Gedanke schlich sich immer wieder in ihren Kopf. War denn etwas in ihrem Wesen, ihrem Verhalten gewesen, das ihn dazu angestiftet haben konnte, ihr so wehzutun - ihn, ihren geliebten Johannes, der ihr immer wie eine Art Seelenbruder vorgekommen war, beinahe wie der tote Micha?
Es gab niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte. Esra schien verändert, immer leicht abwesend und ganz mit eigenen Problemen befasst. Sie sah ihn kaum noch, und wenn, dann sah er sie so seltsam an, dass sie sich auf der Stelle unbehaglich zu fühlen begann. Angeblich, weil er seinem Onkel in der Synagoge helfen und sich um Lea kümmern musste, aber sie glaubte nicht so recht daran. Hatte auch er ganz plötzlich jegliches Interesse an ihr verloren, weil er spürte, dass etwas mit ihr geschehen war? Konnte er etwas ahnen? Auffällig war jedenfalls, dass er Johannes mit keinem Wort erwähnte.
Hilla kam natürlich erst recht nicht infrage. Sie war bleich und abgemagert, selbst zum Schimpfen zu schwach und hatte große Mühe, nach der Fehlgeburt wieder gesund zu werden. Keinerlei Aussicht, dass sie bald zur gewohnten Arbeit im »Schwan« zurückkehren würde. Niemand in der Familie hielt es für nötig, das mit Anna zu besprechen; jeder ging davon aus, sie würde selber ihre Schlüsse ziehen und hinlangen, wo immer sie gebraucht wurde.
Nicht einmal Regina konnte sie sich anvertrauen, die ihr gegenüber inzwischen zu einem bemüht sachlichen Ton zurückgekehrt war, ohne die Herzlichkeit allerdings, die früher so oft ihre Seele erwärmt hatte. Es tat Anna weh, sehr weh sogar, aber sie beugte sich der Entscheidung der Begine. Alles noch immer besser als jener strenge, zutiefst enttäuschte Blick, der sie bis in ihre Träume verfolgte.
Nur Guntram fiel auf, wie verändert Anna war. Und er scheute sich nicht, sie darauf anzusprechen.
»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte er sie eines Abends im »Schwan«, als sie in der Küche gemeinsam Most in irdene Krüge abfüllten. »Du gehst herum wie ein
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