Pforten der Nacht
Gespenst.«
Draußen im Wirtsraum versorgte Ursula die letzten Gäste. Die kleine Bettlerin war vor ein paar Tagen kommentarlos mit einem Bündel bei den Windecks eingezogen, in die winzige freie Kammer, die die letzte Magd vorzeitig verlassen hatte. Um Hilla zu entlasten, wie Hermann auf Annas verblüfftes Nachfragen erwidert hatte. Bis sie wieder richtig auf den Beinen war. Ausnahmsweise schien er mit Regina einer Meinung, die ihr Wohlwollen über diesen Entschluss nicht verbarg. Und Ursula packte ordentlich zu, das musste man ihr lassen, so klein und dürr sie auch war. Kein Klagen kam über ihre Lippen; die schwere Arbeit im Schankraum schien ihr nichts auszumachen.
Erstaunlicherweise ging ausgerechnet der schlecht gelaunte Hermann nachsichtig, ja fast schon freundlich mit dem fremden Mädchen um, sorgte sich darum, wie sie untergebracht war, was sie zu essen bekam, und steckte immer wieder den Kopf mit ihr zusammen. Flog jedoch die Tür auf und betrat jemand aus der Familie die Stube, verstummte er schlagartig. Dann verschwand er schleunigst, zu irgendeinem seiner geheimnisvollen Geschäfte, wie oft in letzter Zeit.
Guntram rieb seine verunstaltete Lippe. Im Volksmund hieß es, Kinder seien von Hasenscharten gezeichnet, wenn ihre Mütter mit dem Leibhaftigen gebuhlt hätten. Geschwätz alter Weiber, wie Anna wusste, aber unwillkürlich kamen ihr diese Reden hinter vorgehaltener Hand doch in den Sinn. »Du hast doch was. Komm schon, raus damit!«
»Es ist nichts«, erwiderte sie gepresst.
Von draußen hörte man Ursulas schrilles Lachen. Gefolgt von tiefem Gegröle. Die Kleine wusste selbst übelste Trinker geschickt zu nehmen und besaß ein erstaunliches Reservoir an derben Späßen, das man ihrem Alter kaum zugetraut hätte.
Er ließ nicht locker. »Ich sehe deinen Liebsten gar nicht mehr. Streit? Langeweile? Oder hat sich der feine Herr Johannes vielleicht eine andere ausgeguckt?«
»Das ist einzig und allein meine Sache«, gab sie scharf zurück.
»Nicht mehr lange, denke ich. Hilla hat sich deine Heirat mit diesem Ardin in den Kopf gesetzt und Hermann so lange bearbeitet, bis auch er dafür war. Inzwischen hält er es für seine eigene Idee. Du weißt ja, wie stur der Alte sein kann. Hast du gesehen? Heute Abend war dein Bräutigam in spe schon wieder da.« Er nahm einen großen Schluck Most und beobachtete sie dabei ungeniert. »So übel ist er doch gar nicht! Ein schmucker Graubart mit einer dicken Börse. Was riskierst du schon? In der Bettstatt wird er dich nicht mehr allzu sehr piesacken. Und du kannst in Zukunft ganz öffentlich Frau Meisterin spielen. Keine Maulwürfin mehr, kein Schwesterngeplärr, kein Wirtshausgestank. Nicht einmal mehr ein verunstalteter Oheim, das Gespött aller Leute. Ist das vielleicht nichts?«
Er trank, bis der Becher leer war.
Abermals gickelndes Lachen aus dem Schankraum. Wieder diese kleine, raffinierte Bettlerin!
Guntram folgte Annas mürrischem Blick zur Tür. »Die aufgeweckte Kleine da draußen wird schneller in deine Fußstapfen treten, als dir lieb ist.«
»Ich frage dich, wenn ich einen Rat brauche, ja?«
Sie mochte Ursula nicht, das wusste sie inzwischen. Es war nicht nur Eifersucht, sondern mehr als das, ein starkes, unbedingtes Gefühl der Abneigung, und beruhte ganz auf Gegenseitigkeit, wie ihr blitzende Blicke aus schmalen, schwarzen Augen verrieten. Mittlerweile tat es Anna von Herzen leid, dass sie die Waise im Winter aufgelesen und zu Regina gebracht hatte. Aber es war wohl zu spät, um etwas daran zu ändern. Auf geheimnisvolle Art war es ihr sogar gelungen, sich in Annas Familie einzuschmuggeln. Trotzdem: Sie würde versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen, so gut es eben ging.
»Oder ist es der hübsche Jude, der dir im Kopf herumspukt? Früher wart ihr ja unzertrennlich, Esra, Johannes und du. Ich dachte schon, du würdest dir zwei Männer nehmen, wenn es einmal so weit ist. Und jetzt? Jetzt sind auf einmal beide verschwunden. Was soll man davon halten?«
Etwas in seinem Ton ließ sie aufhorchen. Was wusste er von ihnen? Von der Freundschaft, die sie verbunden hatte? Von ihrem Schwur? Oder, noch schlimmer, von der Fastnacht? War er vielleicht in der Nähe gewesen, als Johannes sie …
Übelkeit wallte in ihr auf. Sie musste nach draußen, auf der Stelle! In der kühlen Nachtluft wurde es langsam besser. Guntram war ihr nachgegangen. Alle Gegenstände sahen im bleichen Licht des abnehmenden Mondes wächsern und leblos aus. Er hob ihr Kinn
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