Pforten der Nacht
langsam hoch, und sie wagte nicht, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Ein aufregendes Frätzchen hast du, Anna Windeck«, sagte er langsam. War er betrunken? Sie starrte in seine hellen Augen. Nicht ein einziger Wimpernschlag, so intensiv sah er sie an. Beileibe nicht wie ein Verwandter! Eher wie jemand, der eine Ware kritisch begutachtet. »Nichts Alltägliches, eher etwas für Kenner, die hinter die Fassade schauen können. Zartes, junges Fleisch, das leider nur allzu schnell verwelkt, wenn ein Haufen Bälger erst einmal da ist und Streitereien mit dem Ehemann dich mürbe machen. Ein Nu, ein Hauch der Ewigkeit. Ja, ja, die grausame Zeit, der hinterlistigste Feind aller Weiber!«
Er lachte gepresst.
Hatte er den Verstand verloren bei den einsamen Basteleien, droben in seiner Kammer? War er zu viel allein gewesen? Er kam ihr fremd vor, fast schon unheimlich. Sie hatte sich nie um sein Anderssein geschert und ihn immer vor Angriffen Dritter in Schutz genommen, heute aber flößte er ihr Unbehagen, ja geradezu Angst ein.
»Drum halt dich ran. Bedien dich seiner. Mach die Männer damit kirre. Aber vergiss dabei deinen Verstand nicht. Worauf wartest du noch? Du bist nur eine von zweien. Der eine Zwilling begleitet den anderen wie ein Schatten. Ein Leben lang. Sieh es doch so: Du lebst. Und dein armer Bruder ist tot. Genauso tot wie dein halb ausgeschlüpftes Stiefbrüderchen.« Er lachte gequält. »Sieht ganz so aus, als ob die Männer in unserer Familie nicht gerade vom Glück verfolgt wären! Sollten es da die Weiber nicht besser treffen?«
Er ließ sie stehen und ging wieder hinein, nach hinten in den Lagerraum, um frischen Most zu holen.
Der eine Zwilling begleitet den anderen wie ein Schatten. Ein Leben lang.
Anna hatte es immer gespürt. Aber niemals die richtigen Worte dafür gehabt.
Jetzt gingen sie ihr nicht mehr aus dem Sinn.
Die Sext war vorbei, die Non noch nicht angebrochen. Johannes kniete in seiner schmalen Zelle und versuchte zu beten. Nebenan war es still; kein Laut drang durch die Mauern. Er war froh darüber, beinahe erleichtert, musste er doch beinahe jede Nacht mitanhören, wie sich sein Nachbar mit der Geißel traktierte.
Sein Gesicht gesehen hatte er noch kein einziges Mal; er kannte nur die vierschrötige Gestalt in der braunen Kutte, die Kapuze tief über die Augen gezogen wie bei den anderen auch. Ebenso wenig wusste er, weshalb der Fremde sich so unbarmherzig bestrafte. Er kannte allein seine Stimme, die rau und ungleichmäßig klang, als habe er sie lange nicht mehr gebraucht. Das unterdrückte Stöhnen. Das Keuchen.
Und das gleichmäßige Klatschen der Lederschnüre auf bloßem, verletzlichem Fleisch.
Er war also beileibe nicht der Einzige, der darum ersucht hatte, während der Fastenzeit Exerzitien im Minoritenkloster abhalten zu dürfen. Zu seiner Überraschung hatte Bruno de Berck seiner Bitte sofort zugestimmt, ihn jedoch kein einziges Mal nach dem Grund seiner Bußübungen gefragt. Allerdings weigerte er sich strikt, ihm zu harte Bestimmungen aufzuerlegen, forderte ihn auf, regelmäßig an den Gebeten der Brüder teilzunehmen, und untersagte ihm allzu strenges Fasten.
Der Mönch reagierte ausgesprochen unwirsch, als Johannes ihn auf die Kasteiung des unbekannten Zellennachbarn ansprach. »Lass ihn tun, was er glaubt tun zu müssen. Jeder geht seinen Weg. Besser, du konzentrierst dich auf deine eigene Seele.«
»Aber genügt er nicht Gott dem Herrn mehr als ich, wenn er sich so wenig schont?«
»Durch die Löcher einer Kutte kann die Hoffahrt ebenso leuchten wie im Brokatmantel eines eitlen Laffen. Nichts und alles sind eins. Wer das Nichts einfordert, begehrt in Wirklichkeit oft das Alles.«
Johannes konnte wenig mit dieser Antwort anfangen und sah ihn fragend an. Wie jung er war! Wie unbedingt! Er erinnerte ihn an den Beginn seiner eigenen Suche, die Zeit, wo er ungeduldig und voller Jähzorn gewesen war.
»Wenn du beichten willst«, fügte Bruno versöhnlicher hinzu, »ich stehe dir jederzeit zur Verfügung. Reue hat nichts mit äußerlicher Bußanwendung zu tun, mein Sohn, sondern muss ganz von innen kommen. Erst dann kann uns die göttliche Liebe wie ein Blitz mitten ins Herz treffen.«
Nein, beichten wollte Johannes um keinen Preis!
Denn dann hätte er ja Vergebung erfahren, und für das, was er Anna angetan hatte, konnte und durfte es keine Vergebung geben. Als er in jener kalten Nacht wieder zur Besinnung kam, war es zu spät gewesen. Solange er lebte,
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