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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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niemals würde er vergessen, was er gesehen hatte, nachdem er endlich von ihr abgelassen hatte: Augen wie zwei blinde Spiegel.
    Ohne Entsetzen, ohne Vorwurf, ohne Leben.
    Er war aufgestanden, stumm, weil ihm plötzlich alle Worte fehlten, hatte sich wie ein Idiot ein paarmal hin und her gedreht, als wäre der nasse Boden unter seinen Füßen auf einmal glühend heiß, und war dann einfach davongestürmt, ohne sich ein einziges Mal nach ihr umzuschauen.
    Seitdem konnten kein Vaterunser, kein Credo, kein Angelus seinen Seelenfrieden retten. Verdammt fühlte er sich, einem Tier näher denn einem Menschen. Nur wenn es ihm gelang, sich über Tage heimlich selbst der kargsten Fastenspeise zu enthalten und sein Leib ganz hell und zart wurde, dann empfand er so etwas wie Erleichterung.
    »Mein Vater ist Gott«, flüsterte er in jenen kostbaren, auserwählten Augenblicken vor sich hin, »du, allmächtiger Gott, und sonst niemand. Wie besiege ich das Fleisch, dass es nicht trennend zwischen uns tritt, Herr?«
    Er warf sich zu Boden, genoss die Härte und Kälte seiner Zelle. »Rechts von mir der Abgrund Gottes, links von mir der Abgrund Satans. Wenn mir keine Flügel wachsen, muss ich fallen, o Herr!«
    So fand ihn Kustos, als er nach der Vigil ohne anzuklopfen eintrat. »Steh auf«, sagte er barsch. »Und sieh mich an! Bist du ein wahrer Büßer im Herrn?«
    »Das bin ich«, erwiderte Johannes beklommen.
    Der Mönch mit den weißlichen Augen schüchterte ihn ein. Was wusste er von ihm? Hatte ihn jemand verraten? Oder stand ihm die Sünde bereits auf der Stirn geschrieben?
    »So bist du bereit?«
    »Bereit? Wozu?« Er fühlte sich schwach und war auf einmal sehr hungrig. »Hat Bruno dich geschickt?« Gab es doch eine Möglichkeit, sich von der Schuld reinzuwaschen?
    »De Berck?« Ein kurzes, wolfsartiges Knurren. »Wohl kaum. Und ich rate dir, kein Wort über das zu verlieren, was dir heute geschieht. Weder zu ihm noch zu sonst einer lebendigen Seele. Es sei denn, du willst als Missgeburt vor Gott und den Menschen verstoßen werden. Und hast damit die Gelegenheit zur Reue für ewig vertan. Hast du verstanden?«
    Johannes nickte eingeschüchtert. Auch wenn er alles andere als verstanden hatte.
    »Dann komm. Ach, eines noch.« Der Franziskaner wandte sich ab, kam zurück und zog ein schwarzes Tuch aus der Kutte. Geschickt verband er damit die Augen des jungen Mannes. »Schlecht ist die Menschenseele«, murmelte er dabei. »Und zu allem fähig. Dem Satan kannst du entgehen, dem Menschen nicht. Wann wirst du sie endlich erlösen, o Herr?«
    Er stieß Johannes mehr, als dass er ihn führte, durch lange, schmale Gänge, muffig und eng, in denen er über allerlei Unrat stolperte. Bald schon verlor Johannes jegliches Zeitgefühl. Gingen sie stundenlang? Oder waren es nur Augenblicke, die ihm unendlich vorkamen? Es roch nach Moder und Schweiß; der Boden war schlüpfrig, dann wieder trocken und abgeschabt, als hätten ihn unzählige Füße vor ihm schon betreten. Sie mussten sich bücken und einige Male über Hindernisse klettern, alles andere als einfache Übungen, wenn man nichts sah. Einmal nur streifte kühle Nachtluft ihre Wangen, und sie schienen eine kurze Strecke im Freien zu gehen, dann umhüllte sie wieder der abgestandene Geruch unbewohnter Gänge.
    Schließlich knarzte Holz, der Raum öffnete sich spürbar, sodass sie aufrecht stehen konnten, und Licht drang durch die Schwärze des Verbands. Johannes hörte leises Raunen. Das Atmen zahlreicher Menschen.
    Schließlich wurde die Binde gelöst.
    Er stand in einem prachtvollen Gemach, von Dutzenden von Kerzen erhellt, so hell, dass sie seine Augen blendeten. Erst allmählich sah er wieder richtig.
    Und erschrak.
    Er wusste, wer der Mann mit der gelblichen Gesichtsfarbe war, der den purpurnen Bischofsmantel mit dem Spitzenkragen trug. Kein anderer als Walram, der Kurfürst von Köln. Auf geheimen Gängen mussten sie direkt in seinen Palast gelangt sein!
    Wortlos dirigierte er sie zu einer schmalen Tür und ließ sie eintreten. An einem mächtigen Holzkreuz hing der Menschensohn, schmerzerfüllt, voller Blut und Wunden. Für einen Moment war Johannes sich ganz sicher, der Gekreuzigte schaue ihn mit müden Augen direkt an.
    Ihn allein.
    Er wagte nicht, nach links oder rechts zu schauen. Er wagte keine einzige Bewegung. Aber er hörte, wie die anderen vor und neben ihm seufzten oder heftig ausatmeten.
    »›Ich habe nicht Vater noch Mutter, kein Haus, ich habe nur Gott.‹ So

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