Pforten der Nacht
eine Prophezeiung. »Köln, meine Brüder im Geiste, soll eine Passionswoche erleben, die es niemals vergessen wird. Die Zeit ist knapp. Und es gibt noch eine Menge vorzubereiten. Aber ich bin inzwischen alles andere als untätig gewesen.«
Rasch war er zur gegenüberliegenden Wand geschritten und zog den Teppich zur Seite, eine byzantinische Bildstickerei von hohem Wert. Dahinter verbarg sich eine schmale Tür.
»Worauf wartet ihr noch?«, rief der Erzbischof. »Kommt schon!«
Sie folgten seiner Aufforderung. Er stieß die Tür auf, die in einen hohen Raum führte. Er war weiß gekalkt und leer - bis auf das mächtige Holzkreuz, das vor dem einzigen Fenster stand. Keiner wagte ein Wort zu sagen; mehr als einer hielt den Atem an.
Der Gekreuzigte war realistisch dargestellt, mit langem braunem Haar und bleichen, schmerzverzerrten Zügen; sein Leib mager und so weiß, dass die Blutstropfen, vor allem jedoch die Stigmata beängstigend rot leuchteten. Das war alles andere als ein jubilierender Heiland! Das war die gequälte, geschundene menschliche Kreatur, von Christus verkörpert.
Walram genoss ein paar Augenblicke lang die Betroffenheit seiner Gäste. Dann trat er zum Kreuz und befahl Kustos an seine Seite. »Die Arbeit eines begabten Prager Holzschnitzers, auf Umwegen zu Wasser und zu Land bis in unsere Stadt transportiert - eine Kostbarkeit, weil sie unmittelbar zu den Herzen der Menschen spricht. Ihrer Botschaft kann sich niemand entziehen, kein einziger Gläubiger. Und wer wäre besser dazu geeignet, sie auf dem Rücken durch die Stadt zu tragen, als bußfertige Sünder?« Ehrfürchtig berührte er das Holz. »Ich hatte schon befürchtet, sie würde nicht rechtzeitig ankommen oder unterwegs verlorengehen. Aber gestern Abend ist sie doch eingetroffen, behütet von der Gnade des Vaters, der Liebe Jesu und der Erleuchtung durch den Geist.«
Sein Ton wurde fordernd. Jede Geste saß.
»Hilf mir, Johannes! Ja, du und kein anderer. Komm her. Ich brauche dich, Bruder. Sieh genau zu und tu mir nach, was ich dir vormache!«
Langsam zog er den linken Nagel heraus; Kustos tat es folgsam mit dem rechten. Die Arme fielen nach unten wie bei einem Menschen aus Fleisch und Blut. Einen Moment lang drohte die Holzfigur vornüber zu kippen. Erst jetzt lösten sich die Männer aus ihrer Starre und fingen sie gerade noch rechtzeitig auf. Sie war schwer, um vieles schwerer als jeder menschliche Leichnam. Einige Mönche beugten demütig die Knie; andere spürten die ungewohnte Anstrengung im Rücken. Schweißtropfen begannen zu rinnen. Man hörte leises Keuchen. Mehr als einer begann verstohlen zu ächzen.
Keiner sprach. Niemand wagte eine Bewegung zu machen. Die Zeit in dem kleinen Raum schien stillzustehen.
Ein feines Lächeln spielte um Walrams Lippen. Er unternahm nicht die geringste Anstrengung, sie von ihrer Last zu befreien.
Irgendwann, als sie noch ziemlich klein gewesen war, hatten Annas stumme Zwiegespräche mit ihrem toten Zwilling begonnen. Sophie, die verstorbene Mutter, war für sie nicht mehr als ein vergänglicher Hauch, ein blasser, formloser Geist, der sich jedem näheren Zugriff entzog, so viel ihr auch Regina über sie erzählte. Michael dagegen kam ihr ganz real vor, ein schöner, blonder Junge, so stellte Anna ihn sich vor, der in ihrem Herzen lebte und mit ihr heranwuchs. Seitdem sie den kleinen Stiefbruder an einem grauen Nebelmorgen zu Grabe getragen hatten, war Michael ihr noch näher, beinahe, als ob das sinnlose Sterben des einen den anderen Toten umso lebendiger gemacht hätte.
Es gab eine hölzerne Statue in Sankt Gereon, vor dem rechten Seitenaltar, die sie besonders liebte. Sie stellte den Erzengel Michael dar, der sein Schwert schwang. Kein mächtiger, düsterer Krieger, der Adam und Eva mit harten Worten und Waffengewalt für immer aus dem Paradies verwies, sondern ein schlanker Jüngling, der spielerisch und voller Anmut Gottes Pforten verteidigte. Der unbekannte Künstler hatte sich viel Mühe mit dem Gesicht gegeben. Die Brauen waren licht und fein gezeichnet, die Lippen voll, das Kinn kühn gereckt. Ein Lächeln ließ ihn freundlich und sanft wirken. Das war er, ihr Zwillingsbruder! So hätte Micha, wie sie ihn seit Langem nannte, ausgesehen, wäre er am Leben geblieben.
Wann immer sie ein paar freie Augenblicke abzwacken konnte, flüchtete sie sich zu ihm, und in dieser nebligen, kühlen Fastenzeit, die wie ein schweres Joch auf der ganzen Stadt lastete, gab es so gut wie keinen
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