Pforten der Nacht
war?
»Wie heißt sie?«, bohrte sie weiter. »Wie ist ihr Name?«
»Anna«, erwiderte er zu seiner eigenen Verblüffung. »Anna Windeck.«
»Anna«, wiederholte sie spielerisch und ließ die fremden Laute auf ihrer Zunge rollen. »Anna Windeck. Sie ist keine Jüdin, oder?«
»Nein, das ist sie nicht. Anna ist keine Jüdin.«
»Ist sie schön?« Noomi schien noch lange nicht zufrieden. »Ach, was frage ich da? Natürlich ist sie schön!«
»Ja, das ist sie«, erwiderte er heftig. Allein der Gedanke daran machte ihn unruhig. »Und etwas ganz Besonderes. Anna ist stark und mutig. Mutiger als manch ein Mann.«
»Aber du hast sie sehr lange nicht gesehen«, fuhr Noomi nachdenklich fort. »Deine Anna ist älter geworden. Sie könnte einen Mann haben. Und Kinder, wie die meisten jungen Frauen, besonders, wenn sie schön sind. Oder meinst du, sie hat auf dich gewartet?«
Ihr Atem ging heftiger, und sie mied seinen Blick. Jetzt war ihr dunkelrotes, lockiges Haar, das ein schmaler Reif hielt, wie ein Schleier, der ihr Gesicht vor ihm verbarg.
Auf einmal drängte sich ihm mit aller Macht das Bild eines schlanken, blonden Mannes auf - Johannes! Und Anna war ganz nah bei ihm. Wie damals, wie in Dutzenden quälender Träume und Tagfantasien, die ihn bis heute nicht losgelassen hatten, sah er die beiden eng zusammenstehen, sich umarmen, sich voller Inbrunst küssen. Mochte inzwischen auch eine kleine Ewigkeit verstrichen sein, es tat kaum weniger weh als vor all den Jahren. Das Mädchen neben ihm schien auf seine Antwort zu lauern. Schweren Herzens erteilte er sie ihr.
»Nein, wohl eher nicht.«
Noomi schien dennoch alles andere als beruhigt. »Kommst du wieder, Esra? Oder wirst du uns alle schon bald vergessen haben?«
»Unsinn«, murmelte er und berührte kurz ihren warmen Scheitel, wie er es früher unzählige Male bei Lea getan hatte. »Natürlich komme ich wieder.«
Esra musste an ihre Worte denken, als er vor dem Gerberhaus angekommen war. Guntram hatte es ihm beigebracht, im Vorübergehen, beinahe beiläufig, als sei es die normalste Angelegenheit der Welt. »Sie hat Leonhart Ardin genommen, einen verwitweten Gerbermeister, reich an Jahren, aber recht gut gestellt. Auf jeden Fall ist seit Langem schon für sie Schluss mit der anstrengenden Arbeit im ›Schwan‹. Das erledigt alles Ursula. Hilla kann daheim selber den Kochlöffel schwingen, und Anna muss sich nur noch für die eigenen Truhen abrackern. Und davon hat sie jetzt eine ganze Menge, wie man so hört.«
In der Wasserwerkstatt, wo die meiste Arbeit stattfand, sah er zwei jüngere Männer und einen Buben damit beschäftigt, an Stangen befestigte Häute von Schmutz, Fett und Salz zu reinigen. Zwei andere, kaum älter als er selber, rammten gerade neue Pflöcke in den Bachlauf. Nirgendwo eine Spur von einem alten Bärtigen, dem Mann, der ihm Anna geraubt hatte. Unschlüssig wandte er sich hinüber zum Schuppen, da sprang die Tür plötzlich auf, und ein blondes kleines Mädchen lief ihm entgegen.
»Wer bist du?«, fragte sie neugierig. »Ich bin die Flora. Und das da ist meine Mama.«
Bevor er noch antworten konnte, stand Anna schon vor ihm, mit rosigen Wangen, als hätte sie gerade etwas Schweres gehoben, die Augen dunkel vor Sorge. Er starrte auf die gestärkte weiße Kopfbedeckung, die ihr Haar verbarg: die Haube der verheirateten Frauen. Erst jetzt sickerte langsam in sein Bewusstsein, was er zuvor erfahren hatte. Sie war das Weib eines anderen. Er hatte sie endgültig verloren, nicht an Johannes, wie immer befürchtet, sondern an einen unbekannten Fremden. Ein alter Mann, der mit ihr tun konnte, was er wollte.
»Esra!«, sagte sie tonlos, als brächte sie nicht mehr zustande als dieses einzige Wort. »Esra!«
Warum nur blieb ihm trotzdem auf einmal alles im Halse stecken? Weshalb verschwamm Noomis liebliches Bild, das Wolkenspiel der Lagune, die Steinhäuser auf der Giudecca, in denen er sich so zu Hause gefühlt hatte? Sein Herz schlug schwer und schnell, und er wollte nur eines: sie an sich ziehen. Endlich ganz bei ihr und mit ihr zu sein. Für immer.
»Ich wollte schon früher kommen«, stieß er zusammenhanglos hervor, »aber ich konnte nicht. Es ist ein weiter Weg von Venedig nach Köln.« Er hielt inne, suchte ihren Blick. Und wenn sie tausend eheliche Hauben trug, sie gehörte zu ihm! Er war sich plötzlich wieder ganz sicher. »In mehr als einer Hinsicht.«
Ihr Gesicht war genauso wie in seinen sehnsuchtsvollen Erinnerungen, schmal,
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