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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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was kaum weniger intensiv ausdünstete. Dann erst kamen sie auf die Trockenböden der Gerberhäuser, um schließlich durch Walzen und Klopfen fertig für den Verkauf zugerichtet zu werden. Aber an diese Pestilenz, wie sie sie anfangs genannt hatte, hatte Anna sich inzwischen so gewöhnt, dass sie sie manchmal gar nicht mehr wahrnahm. Es fiel ihr nur noch richtig auf, wenn Besuch aus anderen Vierteln kam und die Nase zu rümpfen begann. Dann allerdings konnte sie sehr streng werden und Worte finden, die den anderen schnell zum Verstummen brachten.
    Als sie das Haus »zum Bogen« erreicht hatte, wie Ardins Besitz seit dem Umbau wegen des neuen Rundbogens im Hochparterre allerorts genannt wurde, stürzte ihr sofort die Magd Hedwig entgegen, die schon seit vielen Jahren bei dem Gerber im Dienst stand.
    »Da ist fahrendes Volk angekommen«, rief sie. »Ein schmutziger Junge und eine wüste Frau, die nicht von der Stelle weichen wollen, obwohl ich es sie geheißen habe.«
    »Wo stecken sie denn?«, wollte Anna wissen und reichte ihr Flora hinüber, die die Augen kaum noch offenhalten konnte. »Sie kriegt ihre Suppe, und dann muss sie sofort ins Bett.«
    »Im Schuppen«, lautete die Antwort. »Wenn sie ihren Fuß auch nur über die Hausschwelle setzen, kriegen sie die Rute zu spüren, das hab ich ihnen schon angedroht.« Hedwigs Augen wurden eng. »Ich hätte sie ja auf der Stelle weggejagt, aber der Junge hat behauptet, er müsse unter allen Umständen zu Euch.« Sie verzog das Gesicht, um unmissverständlich zu verdeutlichen, was sie von einer Hausherrin halte, die solche Leute überhaupt kenne. »Wer weiß, was solch ein Gesindel noch anrichtet! Du drehst ihnen den Rücken zu, und schon geht alles in Flammen auf!«
    »Da sind sie im Schuppen, wo unser ganzes Stroh lagert, ja genau richtig untergebracht!«
    Anna, die Reginas Worte noch im Sinn hatte, konnte das grundlose Unken auf einmal nicht ertragen. Sie ließ die alte Hedwig mit dem Kind auf dem Arm einfach stehen und ging selber hinüber, um nachzuschauen. Zwischen den Ballen entdeckte sie zwei liegende Gestalten, einen halbwüchsigen Jungen und eine Frau. Beide offenbar krank. Das Gesicht des Jungen war dick geschwollen, der Atem der Frau ging schwer und rasselnd.
    »Hilfe«, flüsterte der Fremde. »Mein Zahn tut so weh. Und sie hat fürchterliche Leibschmerzen.«
    Jetzt erst erkannte ihn Anna. Es war Bocca, der lustige kleine Gugelmann, der im letzten Sommer auf dem Jakobijahrmarkt die Schaulustigen mit seinen Jongleurskünsten erheitert hatte. Sein Name stammte, wie er ihr verraten hatte, von seinem großen Mund, der ständig lachte oder fürchterliche Grimassen zog und das schmale Gesicht beherrschte. Die Frau neben ihm war zu schwach, um den Kopf zu heben. Schon bei dem Versuch verließ sie die Kraft; sie erbrach sich röchelnd.
    »Es ist das Wasser«, flüsterte sie. »Ihre Brunnen waren verdorben. Alle! Sie haben ein Gift reingetan. Oder Leichenteile. Sie wollen alle Fremden töten, ja, das wollen sie! Schlechte Menschen - schlechtes Wasser.«
    »Ihr braucht beide Medikamente, Ruhe und etwas zu essen«, entschied Anna und berührte die Stirn der Fiebernden. »Ich habe ein paar Mittel von meiner heilkundigen Tante zur Hand, aber leider nicht einmal einen Bruchteil ihres Wissens. Fürs Erste kann ich euch versorgen, und morgen früh soll sie selber nach euch sehen.« Die Frau war matt ins Stroh zurückgesunken. Ihre Haut war gelblich und so straff über die Knochen gespannt, dass sie Ähnlichkeit mit einem Totenschädel hatte. »Wo kommt ihr her?«
    »Aus Worms«, erwiderte Bocca. »Seitdem sie dort die Juden jagen, ist es auch für uns sehr ungemütlich geworden. Kein Spielmann mehr, nicht ein Zigeuner. Leute wie wir Tsiganes wissen, wann unsere Zeit abgelaufen ist. Wir sind am Fluss entlanggewandert, haben uns sehr beeilt, kaum gerastet, nur wenig geschlafen. Kurz nach Koblenz haben sie unser Pferd gestohlen, und wir mussten zu Fuß weiterziehen. In Bonn hat man uns vom Markt weggejagt, und wir fanden kaum noch etwas zu essen. Da fing sie an, sich zu erbrechen. Und seitdem hat sie nicht mehr damit aufgehört.«
    »Wasser!«, murmelte die Frau, »Wasser, schnell! Ich verdurste!« Ihre Stimme wurde leiser, und sie begann in einer Sprache vor sich hinzustöhnen, die Anna schon ab und an gehört hatte, jenes Rotwelsch, mit dem sich Vaganten, Zigeuner und manche Gauner untereinander verständigten. »War so ein Wunneberg, aber kein Gleidenfetzerin, niemals gewest

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