Pforten der Nacht
Glaubensbrüder in Köln. Natürlich, finanzielle Schikanen von offizieller Seite und kräftig angehobene Judenregale gab es auch hier, dafür aber weder Kleidervorschriften noch hämische Verleumdungen, die ungesühnt blieben. Es tat gut, nirgendwo auf den Gassen und Brücken spitze Judenhüte entdecken zu müssen oder hässliche gelbe Flecken, die jede Kleidung verunzierten, dafür aber freundliche, beinahe ehrerbietende Begrüßungen, wenn ein Christ einen Juden traf.
Sie behandelten ihre Juden gut, weil sie sie dringend brauchten. Der hiesige Geldhandel war seit Langem fest in jüdischer Hand. Pfandleiher und Bankiers, solange man denken konnte, in Mestre und Triest ansässig, waren zu Beginn des Jahrhunderts vom Großen Rat der Stadt gezielt nach Venedig geholt worden, einerseits um die Bedürfnisse der Armen zu befriedigen, andererseits um die Kredite der Kaufleute zu gewährleisten. Man versuchte, den Unwillen der Bevölkerung gering zu halten, der sich binnen Kurzem erwartungsgemäß gegen die Keuffer und Wucherer steigern würde, indem man die Zinssätze festlegte und kontrollierte; schon seit 1300 war es ein staatliches Organ, der Piovego , der diese Beaufsichtigung innehatte. Inzwischen gab es eine Reihe wohlhabender Geldverleiher, und David del Ponte gehörte zu den angesehensten unter ihnen.
Vermutlich hatte Esra großes Glück gehabt, ausgerechnet Aufnahme bei ihm zu finden. Eine große Rolle mochte dabei gespielt haben, dass schon sein verstorbener Vater Simon ihn gekannt und bei Reisen nach Italien mehrfach besucht hatte. Da del Pontes Vorfahren aus Trier stammten und nach schrecklichen Verfolgungen vor zwei Generationen die Alpen überquert hatten, gab es nicht einmal Verständigungsschwierigkeiten, und Esra bemühte sich zudem, so schnell wie möglich Venezianisch sprechen und schreiben zu lernen. Del Ponte beherrschte die Sprache seiner Väter perfekt, obwohl er mit einer echten Venezianerin verheiratet war, und hatte darauf geachtet, dass auch seine Kinder sie gründlich und rechtzeitig erlernten. Der zwölfjährige Jesaja verfiel in ein lustiges Kauderwelsch aus deutschen, italienischen und lateinischen Brocken, wenn er besonders erwachsen wirken wollte, und Noomi, der ehrgeizigen älteren Tochter, unterliefen nur gelegentlich ein paar kleinere Aussprachefehler, die sie stirnrunzelnd sofort verbesserte, wenn sie korrigiert wurde.
Noch immer sah er sie genau vor sich, als habe er sie erst gestern verlassen: das schmale, kluge Gesicht von David del Ponte, das lachende, lebhafte seiner Frau Salome, in dem die fleischlose Nase einen interessanten Gegensatz bildete, Jesajas rundes Kinderantlitz und Noomis gleichmäßige Züge mit den dunklen Mandelaugen, die so schelmisch aufblitzen konnten, um sich schon im nächsten Moment wieder melancholisch zu verdüstern. Sie waren Esra viel mehr geworden als nur die Angehörigen des Mannes, bei dem er in Lohn und Brot stand: eine echte zweite Familie, deren Mitglieder ihm ausnahmslos zu verstehen gaben, wie sehr er inzwischen dazugehörte. Daher hatte auch keiner von ihnen so recht verstanden, warum er ausgerechnet jetzt den beschwerlichen Weg über die Bergpässe in Kauf nehmen wollte. Natürlich - er hatte Heimweh nach Jakub, Recha und vor allem Lea, aber zeugte nicht ein ausführlicher Brief, gerade mal ein paar Wochen alt, den einer der Kölner Lombarden mit nach Venedig gebracht hatte, dass seine Lieben ausnahmslos wohlauf und bei bester Gesundheit waren?
Noomi war die Einzige gewesen, die ihn direkt darauf angesprochen hatte.
»Es geht gar nicht so sehr um die Familie, nicht wahr?«, sagte sie, als sie zusammen über den Markusplatz gingen, um auf das Fährboot zu warten, das sie hinüber zur Giudecca bringen sollte, wo inzwischen die meisten Juden wohnten. »Es ist jemand anderer, nach dem es dich so dringlich verlangt. Sie willst du wiedersehen. Habe ich recht?«
Überrascht sah er sie an. Sie waren einander so gut wie versprochen, obwohl es zwischen ihnen nur ein paar zarte, ganz und gar unschuldige Berührungen gegeben hatte. Aber del Ponte machte kein Hehl daraus, dass er den jungen Kölner Juden nur allzu gern als Schwiegersohn in sein Geschäft aufgenommen hätte. Und was Noomis Gefühle betraf, so gab es manchmal einen so sehnsuchtsvollen Ausdruck, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, dass ihm das Blut stockte. Hatte er diese versteckte Leidenschaft, diese Bereitschaft zur Hingabe überhaupt verdient, wo doch sein Herz seit Langem besetzt
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