Pforten der Nacht
streng, die Stirn zu hoch, die Nase zu kühn, um es wirklich anmutig zu nennen. Aber in Annas grauen Augen brannte ein Licht, das er vergessen hatte. Jetzt leuchtete es, so strahlend, dass er es kaum ertragen konnte.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie als Erstes. »Bleibst du lange?«, kam atemlos gleich hinterher.
»Nicht weiter schwierig«, erwiderte er, »Guntram hat mir Bescheid gesagt.« Er hielt erneut inne, zog die Schultern hoch. »Und das andere kann ich noch nicht beantworten. Kommt ganz darauf an, was in den nächsten Wochen geschieht.«
Was mit uns geschieht, mein einziges Liebchen.
Sie nickte, als ob damit alles erklärt sei. Dann schaute er wieder auf die Kleine.
»Meine Tochter«, sagte Anna rasch, noch bevor er die Frage aussprechen konnte. »Flora. Unser Augenstern.«
»Und dein Mann?« Zu seiner Überraschung ging ihm das gefürchtete Wort glatt und mühelos über die Lippen.
»Ardin? Der ist bei den Bauern im Umland unterwegs, um mit ihnen die nächsten Schlachtungen zu besprechen. In zwei oder drei Tagen wollte er zurück sein. Falls nichts dazwischenkommt. Manchmal muss er richtig weit fahren, bis er geeignete Ware findet.« Jetzt brach sie ab, schüttelte den Kopf, dass die Bänder der Haube flogen. »Aber was rede ich da? Das betrifft doch nur unsere Werkstatt und muss furchtbar langweilig für dich sein!«
Befangen standen sie sich gegenüber, wortlos, während die Kleine singend um sie herumhüpfte und man von gegenüber das Klatschen der nassen Häute hörte. Das Scheunentor öffnete sich abermals; diesmal trat ein halbwüchsiger, zerlumpter Junge mit geschorenem Schädel blinzelnd ins grelle Sonnenlicht. Tränen liefen über seine Wangen; er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen.
»Sie atmet nicht mehr, Anna«, sagte er gequält. »Ihr Gesicht ist ganz weiß und still. Ich glaube, sie ist gerade zur großen Mutter heimgegangen. Zur schwarzen Göttin, die alle Kinder wieder in ihren unendlichen Schoß zurücknimmt, wenn unsere Reise zu Ende ist.«
Anna wurde blass. »Wir müssen sie waschen und herrichten und uns vor allem darum kümmern, dass sie anständig begraben wird«, sagte sie leise, »und man sie nicht wie andere Fahrleute einfach auf dem Schindacker verscharrt.« Sie zuckte die Achseln, schaute Esra an. »Es tut mir leid«, sagte sie, »aber du siehst ja, dass ich gerade alle Hände voll zu tun habe.«
»Darf ich ein anderes Mal wiederkommen?«, fragte er schnell. »Wenn es besser passt? Nächste Woche vielleicht? Ich würde so gern mit dir …«
»Aber ja«, sagte sie müde. »Komm nur vorbei. Allerdings, so richtig viel Zeit hab ich eigentlich nie.« Ihre Geste umschloss das Haus, die Werkstatt, das Kind, den fremden Jungen. Ein winziges Lächeln, beinahe, als wolle sie ihn um Entschuldigung oder zumindest Nachsicht bitten. »Irgendjemand hier braucht immer etwas von mir.«
Er beugte sich zu ihr hinunter, berührte einen Lidschlag lang ihre Wange. »Und Johannes?«, fragte er leise.
Ihr Kopf schnellte zurück, wie verbrannt. Ihr Körper wurde steif, die Stimme klang plötzlich schrill.
»Johannes van der Hülst? Der ist tot für mich«, sagte sie heftig. »Gestorben und begraben.«
Sie nahm das Kind an der Hand, befahl dem Jungen, ihr zu folgen, und ließ ihn einfach mitten auf dem Hof stehen.
Esra ließ einige Tage verstreichen, dann machte er sich mit klopfendem Herzen abermals auf den Weg ins Gerberviertel. Diesmal stand ein schlichter hölzerner Wagen vor dem Haus »zum Bogen«, und es dauerte nicht lange, bis er einen grauhaarigen, leicht gedrungenen Mann entdeckte, der Leonhart Ardin sein musste. Nach kurzem innerem Kampf ging er direkt auf ihn zu, aber da kam schon Flora über den Hof gelaufen, gefolgt von Anna.
Der Bärtige musterte ihn aufmerksam. Er hatte gütige Augen und ein Lächeln, das Esra gefiel. Was ihm allerdings weitaus weniger schmeckte, war die Vorstellung, dass er sich jede Nacht in die gleiche Bettstatt wie Anna legte. Geschweige denn, was anschließend geschah. Aber selbst seiner kritischen Einstellung entging nicht, dass die beiden sich zu mögen und zu verstehen schienen. Außerdem hatte sie ihren Mann offenbar über ihn unterrichtet. Falls er etwas gegen Juden hatte, wie neuerdings so viele hier in der Stadt, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Ihr kommt aus Venedig«, sagte er nach der Begrüßung, »der Stadt der reichen Fernhändler, wo man, wie ich gehört habe, ein Saffianleder produziert, das so weich
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