Pforten der Nacht
… Glis, Glis für mein Giel!«
»Was will sie?«
»Milch«, erwiderte Bocca. »Sie bildet sich ein, sie habe einen Säugling zu versorgen, und bestreitet, dass sie jemals für Geld Männern zu Gefallen gewesen sei. Keine Ahnung, ob das die Wahrheit ist. In die Schuppen und Heuschober hat sie mich nie mitgenommen. Aber dass sie kein kleines Kind hat, das weiß ich ganz genau. Ihr letztes ist schon viele Jahre tot.«
»Ich hole ihr lieber frisches Wasser«, sagte Anna. »Sie scheint ja ganz ausgetrocknet zu sein. Und anschließend kümmern wir uns um deine Malaisen. Ist sie deine Mutter?«
»Nein, aber ich bin schon seit ein paar Jahren mit ihr unterwegs. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Und um Leilah steht es auch schlecht«, erwiderte der Junge betrübt. »Sie trinkt und trinkt, aber ihr Durst wird nicht gelöscht. Als ob ein Brand in ihr wütet, der alles verzehrt.«
Beide lauschten, aber aus dem Stroh kam kein Laut mehr.
»Komm mit«, befahl sie. »In der Küche bekommst du etwas zu essen, deine Tinktur und anschließend ein paar alte Decken für ein frisches Lager.« Dankbar sah er zu ihr auf, aus sprechenden dunklen Augen. Jetzt erst sah sie, wie mager er war, wie zerlumpt. Das Haar matt, zerzaust, als hätten Vögel darin genistet. Seine Knie zwei kleine, knochige Scheiben, Arme und Beine dünn wie Stecken. »Und ein ausgiebiges Bad im Zuber einschließlich Haarescheren könnte wahrlich auch nicht schaden. Ich kann deine Läusescharen ja förmlich husten hören!«
»Ihr seid wie die Göttin selbst«, sagte er voller Bewunderung. »Die Große Mutter, die keines ihrer Kinder vergisst. Und schön wie sie dazu. Wunderschön sogar!«
»Eine Göttin?« Anna lachte. »Wohl kaum! Eine Mutter bin ich wohl, und ob groß oder klein, das mag entscheiden, wer will, du aber bist ein raffinierter Schmeichler, das steht fest«, wehrte sie ab. »Gib dir keine unnötige Mühe, du kriegst deinen Gerstenbrei auch, ohne mir übertriebene Komplimente zu machen.«
Floras lautes Weinen, das durch die Scheunentür drang, ließ sie innehalten.
»Mein Kind!«, rief Anna und stürzte in Richtung Küche.
Bocca sah ihr nach, mit einem langen, sehnsüchtigen Blick, dann trottete er langsam hinterher.
Neun
Alles an Köln fand er nur noch abstoßend, schmutzig, hässlich und rau: die Gesichter der Menschen, die Häuser und Gassen, sogar das Wetter, obwohl der Frühling inzwischen überall seinen Einzug gehalten hatte. Aber selbst jetzt waren die Nächte für seinen Geschmack empfindlich kühl, und es dauerte ihm viel zu lange, bis die Sonne an Kraft gewann und die Tage sich erwärmten.
Missmutig schaute er nach oben, stellte zum aberhundertsten Mal seine Vergleiche an. Und so gut wie immer schnitt die Stadt, in der er das Licht der Welt erblickt hatte, schlechter ab. Nicht einmal ein Mädchenlächeln oder das strahlendste Himmelblau war dazu angetan, seine Stimmung zu heben.
In der Lagune, nach der er sich täglich mehr zurücksehnte, hätten sich längst die zarten Morgennebel gehoben und in perlmuttfarbene Schleier verwandelt, um weiter über den blanken, weiten Horizont zu ziehen und irgendwo im Meer zu versinken. Auf den Kanälen wären Boote und erste schlanke Gondeln unterwegs und die übermütigen Händler an der hölzernen Rialtobrücke damit beschäftigt, ihre Stände für den neuen Tag zu dekorieren. Fast meinte er ihre vorwitzigen, niemals um eine freche Antwort verlegenen Stimmen zu hören, die laue, südliche Luft auf der Haut zu spüren sowie das unverwechselbare Aroma von Meer, Tang und vielen Menschen auf engem Raum zu schmecken, das so manch einer, der Venedig weniger liebte als er, sehr viel prosaischer wohl eher als Gestank bezeichnet hätte.
Nicht aber er. Niemals hatte sich Esra ben Simon, Neffe des Kölner Rabbiners Jakub, an einem Ort so wohl gefühlt wie in dieser Stadt, auf Hunderten von Inselchen in der Gestalt eines springenden Fisches erbaut. Hier spürte er nichts mehr von dem engen Band, das in Köln sein Herz mehr und mehr umschlossen hatte, hier meinte er gleich nach der Ankunft frei und ungehindert atmen zu können. Der Hass in ihm auf die anderen, die ihn ungestraft verhöhnen und schinden konnten, verschwand nicht, aber er selbst wurde wieder gelassener und brachte vor allem das Kunststück zustande, die Welt und die Menschen um sich herum mit neugierigen, offenen Augen zu betrachten. Sicherlich kam dazu, dass es die Juden in Venedig deutlich besser getroffen hatten als ihre
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