Phantasie und Wirklichkeit
würde. Sollte nicht
besonders schwierig sein, die Tatzeit einigermaßen präzise zu ermitteln — ich
werde es mir natürlich noch genauer ansehen — aber ich schätze, etwa vor acht
bis zehn Stunden. Nicht länger, denke ich. Elf, zwölf Uhr letzte Nacht.»
«Nachdem die Pubs zugemacht hatten.»
«Sie hat nichts getrunken, Inspektor.»
«Oh.»
Morse legte seine Hand leicht auf die
Schulter der jungen Pathologin und bedankte sich. Ihre Augen sahen interessant
aus — und interessiert. Manchmal dachte Morse, er könne sich in Laura Hobson verlieben
— und manchmal dachte er, er könnte es nicht.
Es war fast Mittag, bevor Morse
Anweisung gab, die Leiche fortzuschaffen. Die Leute am Tatort hatten ihre
Arbeit abgeschlossen, und auf dem Teppich lag jetzt eine dicke, durchsichtige
Plane. Lewis war, zusammen mit zwei Polizisten, schon seit längerem unterwegs,
um sich um die vorbereitenden Maßnahmen zu kümmern: Bayleys Alibi zu
überprüfen, die Nachbarn zu befragen und soviel wie möglich über Sheila Posters
Vergangenheit herauszufinden. Und Morse selbst stand jetzt allein in dem
Zimmer, in dem Sheila Poster ermordet worden war, und sah sich um.
Aber es war fast sofort offensichtlich,
daß sehr wahrscheinlich nicht viel zu finden war. Die acht Schubladen des
modernen Schreibtischs, der an der Innenwand stand, waren absolut leer, was zu
der fast unvermeidlichen Folgerung führte, daß der Mörder systematisch den
Inhalt einer jeden Schublade sowie das, was auf dem Schreibtisch stand,
eingepackt hatte, in... nun, in irgend etwas — etwa einen schwarzen Plastikbeutel?
Und dann war er in der Nacht verschwunden, mit Handschuhen sehr wahrscheinlich,
denn Morse war berichtet worden, daß man keine fremden Fingerabdrücke gefunden
hatte — nur die fast überall vorhandenen der ermordeten Mieterin. Die
Oberflächen vom Schreibtisch, von den Regalen und allen Möbeln, vom Fenster —
von allen waren pflichtgemäß Fingerabdrücke genommen worden, aber es schien
höchst unwahrscheinlich, daß ein so methodisch vorgehender Mörder irgendeine
leicht lesbare Signatur hinterlassen hatte.
Es war auch keine Handtasche da, keine
Urkunden irgendeiner Art — nichts.
Oder doch?
Über dem Schreibtisch hing an einer
Schnur von der Bilderleiste eine Sperrholzplatte herunter, etwa 75 mal 75
Zentimeter, auf der mit verschiedenfarbigen Heftzwecken zehn Dinge befestigt
waren: fünf Medici-Reproduktionen von bekannten Bildern (darunter zwei
Präraffaeliten), ein Faksimiledruck von Keats’ ,
eine Postkarte, die die Totenmaske von Tutanchamun zeigte, ein Foto von einem
Eisvogel, der, einen großen Fisch im Schnabel, auf einem Schild mit der
Aufschrift saß, eine gedruckte Einladung zu einem
St.-Hilda’s-Old-Girls’-Treffen im März 1993 und ein Handzettel, auf dem ein
Krimi-Kurzgeschichten-Wettbewerb der Oxfordshire County Libraries angekündigt
wurde: Keating — Einsendeschluß 10. April 1993>.
Bemerkenswert! Noch sieben Wochen. Aber
Sheila Poster würde sich jetzt wohl nicht an dem Wettbewerb beteiligen, nicht
wahr, Morse?
Er entfernte methodisch die Heftzwecken
von den Karten und drehte sie um. Vier waren leer — offensichtlich zu
dekorativen Zwecken erworben. Aber zwei enthielten eine kurze Nachricht. Auf
der Karte aus Ägypten stand in einer, wie Morse annahm, männlichen Schrift:
«Kairo ist verdammt heiß, aber ich wünschte, du wärest hier. B.» Und auf der
Rückseite von Collins’ weiblichen Schrift: «Habe mich für das Wochenende zurückgezogen. Ich wußte, daß
Männer mir nicht fehlen würden. Aber sie fehlen mir!! Susan.»
Auf jeder Seite des mit Brettern
vernagelten Kamins standen fünf Bücherborde, der Inhalt systematisch geordnet:
Austins Romane oben links, Wordsworth’ Gedichte unten rechts. Morses Blick fiel
auf Housmans Gesammelte Gedichte, und er zog seinen alten Liebling
heraus. Das Buch öffnete sich sofort bei XXVI., wo eine
Postkarte (noch eine) hineingesteckt worden war: Sie zeigte ein Foto von
Straßen in San Jose’ (so stand darauf), und auf der Rückseite war mit schwarzem
Kugelschreiber geschrieben:
weit getrennt sind wir, mein Lieb,
Und
Meere zwischen den Zwei’n.>
Morse lächelte vor sich hin; das
Gedicht, aus dem die Zeilen stammten, hatte viele Monate zu seiner eigenen
geistigen Ausrüstung
Weitere Kostenlose Bücher