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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ein Laufen. Immer wieder fingen Emma und ich uns gegenseitig auf. Dass ich weinte, bemerkte ich erst, als sich meine Tränen unter dem Rand der Infrarotbrille stauten.
    Vor uns lagen noch fünfzehn Meter bis zum Eingang. Durch die Masken sah ich unsere Spiegelung im Glas, zwei abgekämpfte Gestalten, die sich auf Händen und Füßen über einen Berg von Körpern bewegten. Die Scheiben reflektierten die gegenüberliegenden Fassaden, aber nicht den Himmel, der viel zu hoch über den Wolkenkratzern hing. Trotzdem zog jeder Lichtpunkt grüne Schlieren, und ich wagte nicht mir vorzustellen, wie es ohne die Infrarotbrillen um uns aussah.
    Ich rief wieder, um die Menschen im Inneren des Gebäudes auf uns aufmerksam zu machen. Ich vertraute darauf, dass sie nicht auf uns schießen würden, da wir hoffentlich noch immer das beste Druckmittel darstellten, um Tyler gefügig zu machen.
    Auf den letzten zehn Metern übertönte Gebrüll meine Rufe.
    Widerstrebend drehte ich mich um. Die Nachtsichtmaske filterte das Totenlicht aus einem Radius von zwanzig Metern, dahinter verblasste alles zu einem grünlichen Dunst. Trotzdem sah ich sie kommen, mehrere dunkle Flecken, die sich durch die Helligkeit bewegten, nicht in gerader Linie auf uns zu, sondern in einem Slalom zwischen den Toten auf dem Asphalt hindurch.
    Der Anblick hätte mich fast in die Knie gezwungen, aber vielleicht hatte ich zuletzt einfach zu viel Entsetzliches gesehen. Ich zitterte und schwitzte und meine Augen tränten noch immer, doch ich zwang mich dazu, weiter in Richtung des Eingangs zu klettern.
    Panisch kämpften wir uns vorwärts und ich rief wieder nach Haven und dem Rest seines Trupps. Ich konnte nur daran denken, dass sie Emma retten mussten. Vor allem und ganz besonders Emma.
    Die letzten Meter waren die schlimmsten. Hier hatten die Menschenmassen die vorderen Männer und Frauen gegen das Glas geschoben. Die Gläubigen hatten vor den Smilewaves ins Allerheiligste des Tempels fliehen wollen, obwohl dieser Ort keine Ähnlichkeit mit einer Kirche besaß. Ich wusste nicht, ob es tatsächlich einen Tempel im Sinne eines Bauwerks gab – das hier war er ganz sicher nicht. Dies war ein Bürogebäude, die Zentrale eines weltweiten Konglomerats aus Firmen und Immobilien, und dass die Menschen hier Schutz gesucht hatten, konnte nur einen einzigen Grund gehabt haben.
    Timothy Whitehead.
    Der Führer des Tempels hatte ihnen die Erlösung im Licht versprochen, und sie waren gekommen, um die Reise gemeinsam mit ihm anzutreten. Ich stellte mir vor, wie Whitehead in sicherem Abstand im Inneren gestanden und das Ende seiner Anhängerschaft durch das Spiegelglas beobachtet hatte.
    Da entdeckte ich die Kameras, die oberhalb des Erdgeschosses an der Fassade angebracht waren. Falls die Zentrale des Tempels noch mit Notstrom versorgt wurde, mochten auch sie noch funktionieren. Irgendwo dort drinnen saß vielleicht jemand vor einem Monitor und sah uns. Vielleicht hielt er uns für Nachzügler, die gekommen waren, um Whiteheads Absolution zu erhalten. Dann würde man uns ebenso wenig einlassen wie all die anderen.
    Die Löwen brüllten wieder. Über die Schulter hinweg sah ich, wie sie sich aus dem giftgrünen Dunst schälten, sechs, nein sieben. Mehr als damals. Als ob das noch eine Rolle spielte. Auch hier war es ein männlicher Löwe mit gewaltiger Mähne, begleitet von seinem Rudel Weibchen. Sie waren fast so groß wie er, geschmeidige, muskulöse Körper mit mörderischen Pranken und Gebissen. Die Tiere näherten sich uns in einer breiten Reihe, aus der allmählich ein Halbkreis wurde.
    Der Zugang zum Gebäude war durch eine Schiebetür aus Panzerglas versperrt, die Körper lagen hüfthoch vor den Scheiben. Fraglich, ob sich die Tür überhaupt noch öffnen ließ.
    Der Rotorenlärm eines Helikopters rollte wie Lawinengrollen an der Fassade herab. Emma und ich blickten nach oben, auch die Löwen hielten inne.
    Meine Hoffnung, dass uns der Hubschrauber zu Hilfe kommen würde, zerstob im nächsten Augenblick. Der schwarze Lionheart-Helikopter schoss über die Kante des Dachs hinweg, achtzig, neunzig Meter über uns, folgte ein Stück dem Verlauf der Straße und bog in einer weiten Kurve nach Westen ab. Als er hinter den Wolkenkratzern verschwand, wurde das Motorengeräusch rasch wieder leiser.
    »Das war’s«, sagte Emma. Es war eine sachliche Feststellung.
    Wir waren noch zwei Meter von der Glastür entfernt.
    Die Löwen erreichten den Leichenwall und begannen ihren

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