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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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einmal sträubte sich alles in mir dagegen, diesen Weg zu nehmen. Auch hier gab es zahlreiche Tote, nicht wenige auf der Stromschiene, die bis gestern noch mehrere Hundert Volt geführt hatte. Die Menschen, die hier unten von den Smilewaves eingeholt worden waren, mussten sich gegenseitig überrannt und auf die Schiene gestoßen haben. Nur einen Tag später war von der Massenpanik nichts geblieben als Stille, Gestank und ein Teppich starrer Leiber.
    Nach einiger Zeit stießen wir nur noch auf vereinzelte Körper. Die Luft im Tunnel roch abgestanden, aber mir kam sie nach dem Gestank in der Station fast erfrischend vor.
    »Ist er sicher, dass wir tiefer als siebzehn Meter unter der Straße sind?«, fragte ich Emma.
    Ihr Nicken zog smaragdfarbene Schlieren. »Sonst wären wir schon tot.«
    Eine Weile wanderten wir schweigend, passierten erst eine U-Bahn-Station, dann eine zweite. Vor ihr ließ Tomasz uns warten, bis die Welle vorüber war. Überall bot sich der gleiche Anblick wie an der 50th Street.
    Nach dem letzten Bahnsteig waren wir wieder geraume Zeit durch die Dunkelheit marschiert, als ich etwas hörte. Abrupt blieb ich stehen.
    »Was ist?«, fragte Emma.
    »Hinter uns ist irgendwer.«
    Auch Tomasz hielt inne und horchte.
    Das Brüllen, weiter entfernt als vorhin.
    Ich taumelte gegen die Wand und presste mich mit Rücken und Handflächen dagegen. Tomasz kam auf mich zu und zerrte an meinem Unterarm. Von der Stärke, mit der er Emma und mich durch den Stau am Hudson gezogen hatte, war nichts geblieben. Ich schüttelte ihn ohne Mühe ab.
    Ein Chor aus Löwengebrüll donnerte heran wie ein unsichtbarer Zug.
    »Rain«, flehte Emma, »du musst jetzt mitkommen.«
    »Sie sind uns gefolgt«, flüsterte ich. »Sie sind uns in die Tunnel gefolgt!«
    Emma nickte. »Es gibt wohl nicht mehr viel frisches Fleisch in der Stadt.«
    Das Zittern elektrisierte mich von den Schultern bis zu den Waden. Meine Füße spürte ich nicht mehr vor Kälte, dafür schien mein Kopf in Flammen zu stehen. Das Metronom tickte nicht mehr, es hämmerte hinter meiner Stirn.
    Tomasz griff noch einmal nach mir, und diesmal packte Emma meinen anderen Arm. Gemeinsam zogen sie mich von der Wand. Das Rudel klang noch immer weit entfernt, aber es gab keinen Zweifel mehr, dass es durch die Tunnel heranjagte.
    Und wieder liefen wir durch das Nachtsichtgrün der Unterwelt. Ich verlor jedes Gefühl für Zeit und Entfernungen.
    Irgendwann stolperte Tomasz auf eine Nische zu, die sich als unbeleuchteter Notausgang entpuppte. In ein Schild waren nummerierte Straßennamen gestanzt, im Türrahmen schillerten Spinnweben so grün wie Algenstränge. Die Scharniere waren verrostet. Erst als wir uns zu dritt gegen die Tür stemmten, gab sie nach. Sie hing schief in ihren Angeln, schrammte ein Stück über den Boden und ließ sich bald weder vor noch zurück bewegen. Dahinter lag ein verlassener Treppenschacht mit Ziegelwänden. Flocken eines fingerdicken Staubteppichs wirbelten auf. Der Spalt war gerade breit genug, dass wir nacheinander hindurchpassten.
    Auf den untersten Stufen brach Tomasz zusammen. Emma setzte sich neben ihn und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Mit bebenden Fingern zog er sich die Nachtsichtmaske herunter, obwohl es hier stockfinster sein musste.
    »Er stirbt«, flüsterte sie.
    Ich ging vor den beiden in die Hocke und warf einen nervösen Blick zur offenen Tür, ehe ich mich Tomasz zuwandte.
    Seine Augen waren geöffnet, aber er blickte an uns vorbei in die Finsternis. Seine Lippen bewegten sich, als spräche er mit jemandem.
    »Redet er mit dir?«, fragte ich Emma.
    Sie schüttelte den Kopf. In der Darstellung des Nachtsichtgeräts sah es aus, als liefe eine Träne unter ihrer Infrarotmaske hervor. »Mit den anderen. Es ist nicht mehr weit, hat er gesagt.«
    »Hat er dir auch verraten, wie er dort reinkommen wollte, an Havens Söldnern vorbei?«
    Tomasz tastete in der Dunkelheit nach Emmas Arm. Seine Finger kletterten daran hinauf, bis er ihre Schulter umfasste.
    Nach einem Moment sagte sie: »Wenn wir diese Treppe nehmen, sind wir fast da. Whiteheads Zentrale liegt einen Block weiter östlich.«
    »Und weiß er, wie es da aussieht? Wie wird das Gebäude bewacht? Wir können nicht einfach dort reinspazieren, dann hätten wir auch bei Tyler und den anderen bleiben können. Und wie sollen wir ihn in die Nähe der Probanden schaffen, damit er sie wecken kann? Hat er eigentlich überhaupt eine Idee, wie es weitergehen soll?«
    Es war

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