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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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jedenfalls nicht bleiben.«
    Ich war längst über den Punkt hinaus, an dem es noch eine Rolle spielte, wie gering unsere Chancen waren. Tomasz hatte uns nicht verraten, was genau er vorgehabt hatte. Ich war davon ausgegangen, dass er uns brauchte, um es bis zu den Probanden zu schaffen. Offenbar hatte er befürchtet, dass die Wissenschaftler ihn betäuben würden, bevor er in die Nähe der acht kam; deshalb waren er und die drei anderen das Risiko eingegangen, die Hubschrauber zur Landung zu zwingen, um dann den beschwerlichen Weg zu Fuß einzuschlagen. Aber welche Rolle sollten wir dabei spielen? Ging es wirklich nur darum, ihn auf den letzten Metern zu stützen?
    »Ein Block östlich?«, fragte ich und blickte die Straße hinunter. Dort gab es kaum einen Quadratmeter ohne Geist.
    »Das sind sehr große Blocks«, sagte Emma.
    Ich sah zum nächsten Geist hinüber, einer jungen Frau mit ausdruckslosem Gesicht. »Dann los!«
    Wir setzten die Infrarotmasken auf und rannten. Die nächste Smilewave mochte unmittelbar bevorstehen. Besser, von Havens Leuten gefangen genommen und vielleicht zu den Probanden geführt zu werden, als hier draußen dem Lächeln ausgeliefert zu sein.
    Restaurierte Hochhäuser aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert erhoben sich zwischen hochmodernen Glastürmen. Auf einem Gehweg standen zwei ausgebrannte Hotdog-Wagen. Autos verstopften die Straßen, dazwischen lagen mehrere Motorräder; eines war in eine Menschenmenge gerast, als das Herz des Fahrers versagt hatte. Auch hier pickten Vogelschwärme an den Körpern, und Ratten wuselten umher. All das konnte niemand mehr rückgängig machen. Eine Welt ohne Geister würde eine leere Welt sein.
    Der Tempel des Liebenden Lichts ließ äußerlich keinen Zweifel daran, dass er in erster Linie eine geschäftliche Organisation war und erst an zweiter Stelle eine religiöse. Das Hauptquartier bestand aus Glas und Stahl und unterschied sich nicht wesentlich von den Zentralen der Banken und Versicherungen in der Nachbarschaft. Der Tempel hatte schon früher Reichtümer angehäuft, doch das Erscheinen der Geister hatte die Sekte in die erste Liga der neuen Kirchen katapultiert. Anders als Scientology hatte Timothy Whitehead keine Mythologie aus Science-Fiction-Romanen und Comic-Heften zusammengeklaubt, sondern den Menschen ein schlichtes Versprechen gegeben: Es gab einen verborgenen Sinn hinter der Rückkehr der Toten. Sie waren die Boten, die jeden von uns am Jüngsten Tag bei der Hand nehmen und ins Licht am Ende des Tunnels führen würden.
    In eine bronzene Stele neben dem Eingang waren der achtstrahlige Stern und das Kreuz eingelassen, die Symbole des Tempels. Unsere Infrarotbrillen waren für die Benutzung bei Tag justiert, sie blendeten die Geister und das Totenlicht vollständig aus – doch was sich hinter den verspiegelten Scheiben im Erdgeschoss befand, ließ sich auch durch sie nicht erkennen.
    In den letzten Tagen musste ein Ansturm von Gläubigen über den Tempel hereingebrochen sein, Hunderte, vielleicht Tausende Anhänger, die das Gebäude belagert hatten. Nun lagen sie über- und untereinander vor den Scheiben.
    Auf den Straßen hatten wir meist um die Toten herumgehen oder mit einem Schritt über sie hinwegsteigen können. Hier aber würden wir klettern müssen wie in den Korridoren des Sterbehauses. Aber etwas in mir war erkaltet und abgehärtet. Schlimmer als in den Tunneln konnte es kaum werden.
    Ohne innezuhalten, liefen wir auf das Gebäude und den reglosen Menschenwall zu. Es gab für uns keinen geheimen Weg ins Innere, keine Kletterpartie durch Abflussrohre oder Wie-lautet-die-Losung-Tricks. Wir hatten nur eine einzige Chance, um zu Whitehead und den Probanden vorzudringen. Falls seine Leute uns nicht hereinholten, würden wir hier draußen sterben, sobald die nächste Smilewave durch die Straßen fegte.
    »Hey!«, brüllte ich, so laut ich konnte, zum Eingang hinüber. »Hier sind wir!«
    Emma, die sonst niemals die Stimme hob, versuchte es ebenfalls, aber bei ihr sah es aus, als schnappte sie nach Luft, und zuletzt brachte sie keinen Ton mehr heraus.
    Dreißig Meter vor dem Gebäude lagen die Körper so eng beieinander, dass es unmöglich war, die Füße dazwischenzusetzen. Anfangs versuchte ich, nicht darauf zu achten, wohin ich trat, aber nach ein paar Schritten war klar, dass es so nicht ging. Ohnehin stolperte ich ständig nach vorn und musste mich mit den Händen abstützen. Bald war es eher ein Klettern auf allen vieren als

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