Phantasmen (German Edition)
aussichtslos, und sie musste das so gut wissen wie ich. Wenn wir uns ohne Tomasz ins Freie wagten, gab es niemanden mehr, der uns vor den Smilewaves warnte. Und selbst wenn wir es bis zur Zentrale des Tempels schafften, erwarteten uns die Söldner. Zudem wussten wir nichts über den Ort, an dem Whiteheads Wissenschaftler ihre Nahtodexperimente betrieben. Falls es sich um ein geheimes Labor wie in der Hot Suite handelte, würde es Sicherheitsschleusen und Stahltüren geben.
Tomasz machte Anstalten, sich noch einmal am Geländer auf die Beine zu ziehen und uns das letzte Stück zu begleiten. Wir halfen ihm dabei, legten uns seine Arme um die Schultern und stützten ihn auf dem Weg nach oben.
Einmal meinte ich, wieder das Löwengebrüll in der Tiefe zu hören, aber diesmal gelang es mir, mich zusammenzureißen. Vielleicht nur, weil mir mittlerweile alles so unwirklich vorkam, dass mir selbst die Raubkatzen wie Echos meiner Albträume erschienen.
Wir passierten mehrere Absätze ohne Ausgänge, schleppten uns Treppe um Treppe hinauf, bis wir eine weitere Eisentür erreichten. Sie klemmte so sehr wie die erste, aber Emma und mir gelang es schließlich, sie Stück für Stück nach außen zu schieben. Der Boden dahinter war knöchelhoch mit Müll bedeckt, der sich unter der Tür verklemmte.
Ich zog mir das Nachtsichtgerät vom Kopf. Vor uns lag eine Gasse, die auf einen breiten Bürgersteig führte. Als wir mit Tomasz dort hinausstolperten, entdeckte ich Hunderte Geister in beiden Richtungen die Straße hinunter. Es war eine dieser anonymen Ecken, wie es sie in allen Großstädten gibt, eine Schlucht aus Bürogebäuden, keines unter zehn Etagen, manche sehr viel höher. Die meisten Menschen waren ins Freie gelaufen und dort von den Smilewaves getötet worden. Ein Möwenschwarm hatte sich ganz in der Nähe auf den Leichen niedergelassen. Als sie uns bemerkten, stiegen die Vögel als lärmende Wolke in den Himmel.
Die Geister lächelten nicht, blickten nur apathisch einer Sonne entgegen, die hinter den Hochhäusern verborgen blieb.
»Wie viel Zeit bleibt uns, ehe es wieder losgeht?«, fragte ich Emma in der Hoffnung, Tomasz könnte ihr eine Antwort darauf geben.
Aber der Proband reagierte kaum noch, als wir ihn an der Straßenmündung sanft am Boden ablegten. Emma kniete sich neben ihn, ich blieb stehen und behielt die Erscheinungen im Blick. Vielleicht konnten wir wieder die Treppe erreichen, wenn das Lächeln zurückkehrte – aber dann würden wir sehr schnell sein müssen, da auch in der Gasse Tote lagen. Ich überlegte kurz, zur Tür zu laufen und mich dagegenzuwerfen, um sie doch noch zu schließen. Aber von außen gab es keine Klinke und ich wollte nicht unseren einzigen Fluchtweg versperren, ganz gleich, was uns aus der Tiefe folgen mochte.
Während Tomasz starb, hielt Emma seine Hand. Zuletzt öffnete er die Lippen. Seine Stimme war nur ein Röcheln, so leise, dass sie kaum zu verstehen war.
»Sagt ihnen, ich erfüllte meine Aufgabe.«
Dann war er still. Emma begann zu weinen.
41.
Als Tomasz’ Geist auf dem Bürgersteig erschien, nahm ich sie am Arm und zog sie sanft auf die Füße. »Tut mir leid, aber wir –«
»Haben keine Zeit«, fuhr sie mich an.
Ihre Wut war so überraschend wie ihre Tränen, doch ehe ich reagieren konnte, entspannte sich ihr Gesicht und die alte Emma war zurück. Nur ihre nassen Wangen verrieten, dass sie für einen Moment Gefühle gezeigt hatte, zum ersten Mal seit dem Tod unserer Eltern.
»Was hat er damit gemeint?« Tomasz hatte die Probanden nicht mehr wecken können. Von was für einer Aufgabe also hatte er gesprochen?
Sie blickte noch einmal auf ihn hinunter. »Weiß ich nicht. Seit wir die Treppen rauf sind, hab ich nichts mehr von ihm gehört. Er war zu erschöpft. Und vielleicht irgendwie ja auch schon tot.«
»Schon tot?«
»Salazars Hypnose hat ihn am Leben gehalten, aber echtes Leben war das nicht. In Wahrheit sind sie weder lebendig noch tot. Und je länger er wach war, desto schwächer wurde er. Petersons Beruhigungsspritzen haben es noch eine Weile hinausgezögert, aber spätestens seit dem Absturz …« Sie verstummte, weil klar war, auf was sie hinauswollte: Wahrscheinlich würden auch Flavie und die anderen es nicht überleben, wenn sie aus ihrem Hypnosekoma gerissen wurden. Sie würden erwachen, um bald darauf zu sterben.
»Tyler«, flüsterte ich.
Emma nickte. »Er wird das nicht zulassen.«
Ich ging dem Gedanken aus dem Weg. »Hier können wir
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