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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Aufstieg. Geschickt glitten sie über die Körper hinweg. Sie würden für die Strecke ein Zehntel der Zeit brauchen, die wir benötigt hatten.
    Ich sah Emma an, und wieder brachte sie ein unverhofftes Lächeln zu Stande. Sie ergriff meine Hand, kam näher und umarmte mich. Es wirkte fast herzlich. Ich zog sie fest an mich, und so standen wir oben auf dem Wall, ihr Kopf an meiner Schulter und meine Wange an ihrem weißblonden Haar, und ich dachte noch einmal, dass es das nicht gewesen sein durfte.
    »Nein«, flüsterte ich ihr zu, »so nicht.«
    Und damit ließ ich sie los und schob sie auf dem schwankenden Untergrund hinter meinen Rücken, so gut das eben ging, wandte mich den Löwen zu und ballte die Hände zu Fäusten, hilflos und entschlossen zugleich.
    Sie waren viel näher gekommen, keine zehn Schritte mehr entfernt, und sie ließen sich Zeit, während sich der Halbkreis um uns zusammenzog.
    Der Löwe war ein gigantisches Tier, über und über mit Wunden bedeckt, als hätte er kämpfen müssen, um aus dem Zoo zu entkommen. Er hatte schmale braune Augen, die jeder meiner Bewegungen folgten, und er trug das Haupt ein wenig höher als seine Begleiterinnen, die in Lauerhaltung heranschlichen.
    »Komm schon«, sagte ich und sah nur den Rudelführer an. Blickte in seine Augen und kümmerte mich nicht um die gefletschten Zähne, auch nicht um die Löwinnen.
    Das Zittern hörte nicht auf, aber es war jetzt wie Strom, der durch meinen Körper schoss und mir einen Mut verlieh, den ich zuvor nicht gekannt hatte.
    Emma flüsterte: »Hab dich lieb.«
    Ich nickte und trat dem Löwen entgegen.

42.
    Fünf Meter vor mir blieb er stehen, riss das Maul auf und stieß wieder sein markerschütterndes Brüllen aus. Ich konnte seine Fänge sehen, seinen gerippten Gaumen und den schwarzen Schlund. Und ich konnte ihn riechen: Sein warmer Atem stank nach rohem Fleisch. Mähne und Fell waren verklebt, seine Pranken verkrustet.
    Die sechs Löwinnen hielten inne und spannten ihre muskulösen Leiber. Ich hoffte, dass sie in mir die stärkere Gegnerin erkannten und fürs Erste das Interesse an Emma verloren. Jetzt konnte ich ihr nur noch Zeit verschaffen. Vielleicht waren gerade das die Sekunden, die nötig waren, damit ein Wunder geschah.
    Eine der Löwinnen erwiderte den Ruf des Anführers, dann fielen andere mit ein. Ihre Raubtierstimmen hallten in der Häuserschlucht wider und übertönten die Alarmsignale aus der Ferne.
    Finger berührten mich von hinten.
    Emmas Hand.
    »Nicht«, sagte ich. »Wenn sie –«
    Sie ließ mich nicht ausreden, sondern zog mich zurück.
    »Was –«, brachte ich noch hervor, dann stolperte ich einen weiteren Schritt nach hinten, spürte plötzlich, wie die Körper unter meinen Füßen in Bewegung gerieten und fortrutschten. Dann stürzte auch ich, rückwärts und mit den Armen rudernd, während Emma mich an der Jacke festhielt und dabei auf den rutschenden Leichen stand wie ein Surfer auf der rollenden Brandung. Wir wurden mitgerissen, zum Gebäude und zum Eingang hin, und ich sah jetzt wieder den Löwen, der zum Sprung ansetzte – und im nächsten Augenblick mit einem Schmerzenslaut zusammensackte.
    Den ersten Schuss hatte ich kaum wahrgenommen, aber nun peitschte ein zweiter, und er zerschmetterte den Schädel des Rudelführers. Obwohl ich versuchte, mich zu drehen, verlor ich das Gleichgewicht und wurde in einer Woge aus Körpern durch die offene Schiebetür gespült.
    Emma landete stolpernd neben mir im Windfang, während ich zur Seite sackte und mir Schulter und Ellbogen prellte. Meine Beine wurden unter Toten begraben, aber Emma zerrte schon wieder an mir. Jemand stand mit einem Sturmgewehr draußen zwischen den Toten und feuerte Salve um Salve ab. Löwengebrüll und Heulen ertönte.
    Emma und ich kamen schwankend auf die Beine. Ich riss mir die Infrarotmaske vom Gesicht. Wir stürzten durch eine zweite Glastür in eine lichtdurchflutete Halle, die das ganze Erdgeschoss des Gebäudes einnahm. In der Mitte erhob sich ein massiver Block, in den drei Aufzugtüren eingelassen waren – die mittlere stand offen. Unweit davon befand sich eine verwaiste Rezeption. Ein paar Sitzgruppen waren über das Foyer verteilt, ansonsten herrschte gähnende Leere.
    »Lauft!«, brüllte der Mann zwischen weiteren Salven aus seinem Gewehr. Er trug eine Nachtsichtmaske, aber ich erkannte seine Stimme. »Zu den Aufzügen! Schnell!«
    Colonel Haven stand noch immer draußen auf dem Berg aus Körpern. Totenlicht, eine

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