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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Emma schien sich im Chaos am wohlsten zu fühlen, und entsprechend sah es rund um ihre Turnschuhe aus: leere Coladosen und Verpackungen; Steine, die sie unterwegs aufgelesen hatte; eine spanische Zeitung, die sie nicht verstand, aber trotzdem las; und ein paar grinsende Plastikgespenster aus einem Happy Meal.
    Es wurde Zeit, dass wir endlich unser Ziel erreichten. Der Mini hatte keine Klimaanlage, der Motor machte Geräusche wie ein Rind mit Reizdarm und das Radio war schon seit den Pyrenäen kaputt. Die Luft war brütend heiß, sogar im Oktober, und es wunderte mich nicht mehr, dass es hier keine der provisorischen Siedlungen gab, die wir entlang unserer Route gesehen hatten. Je abgeschiedener die Gegend, desto weniger Geister und desto mehr Abwanderer aus den Großstädten mit ihren Campingwagen und Zelten.
    Die Daheimgebliebenen behalfen sich notgedrungen mit Schlafbrillen und anderen Tricks gegen das allgegenwärtige Totenlicht. In den Megametropolen Asiens und Südamerikas war es angeblich so schlimm geworden, dass es bei Nacht so hell war wie am Tag. Falls sich die Geister im selben Tempo vermehrten wie bisher, würde es bald in allen Großstädten so aussehen und irgendwann – vielleicht in zwanzig, vielleicht in dreißig Jahren – auch draußen auf dem Land.
    Seit wir kurz hinter dem Wüstenort Tabernas die Schnellstraße verlassen hatten, folgten wir einer der zahllosen Ramblas nach Norden. Ramblas sind ausgetrocknete Flussbetten, und diese hier reichte aus der Sierra de Los Filabres weit hinein ins glühende Zentrum der Wüste. Die Straße war einmal gut ausgebaut gewesen, mit gestrichelter Mittellinie und Seitenstreifen, aber der Asphalt war mürbe und brüchig geworden. Die Stoßdämpfer des Mini Cooper konnten die Erschütterungen kaum abfangen. Emma, die noch weniger wog als ich, flog bei jedem Schlagloch fast bis zum Wagendach.
    Sie aktivierte das Smartphone, um die GPS-Koordinaten zu checken, aber wie bei allen ihren letzten Versuchen bekam das Gerät keine Verbindung. Ich hätte es verstanden, wären wir irgendwo in Marokko oder Tunesien gewesen – der Gedanke war eine zittrige Zwei auf meiner Phobie-Skala –, aber das hier war Spanien, Europa, die Zivilisation. Trotzdem tat sich nichts. Emma legte das Smartphone gleichgültig zurück auf die Ablage. Ich hätte es aus dem Fenster geschmissen.
    »Hier muss es sein«, sagte sie und deutete mit einem Nicken nach vorn.
    Die Straße hatte sich kaum verändert, nur die Berge der Sierra waren näher gekommen.
    »Bist du sicher?« Dabei war mir eigentlich klar, dass es keinen Zweck hatte, Emmas Aussagen in Frage zu stellen. Sie war immer überzeugt von allem, was sie sagte. Darum verzichtete sie auch jetzt auf eine Erwiderung, blickte kurz auf die Karte, dann auf den Tachostand und flüsterte: »Wir sind da.«
    Ich bremste ab und lenkte den Wagen auf den sandigen Seitenstreifen. Eine Staubwolke hüllte uns ein, als der Mini zum Stehen kam. Ich hoffte, dass er später wieder anspringen würde.
    Emma stieg aus, trat um die offene Tür und blieb vor der Motorhaube stehen. Einen Moment lang betrachtete ich ihre zierliche Gestalt in Jeans und weißem T-Shirt und dachte, dass ich sie, komme, was wolle, beschützen würde, vor allem und vor jedem. Ich hatte Emma einmal im Stich gelassen – meine Großeltern hatten keine Gelegenheit versäumt, mich daran zu erinnern –, und das würde kein zweites Mal geschehen.
    »Kommst du?«, rief sie.
    Ich stieg aus und warf die Tür hinter mir zu. Ich trug eine beigefarbene Cargohose und ein schwarzes Shirt, nicht ideal für die Wüste, aber ich hatte ungefähr ein Dutzend davon: Blondcore , der Name meiner Band – eigentlich Ex-Band –, stand auf dem Rücken, darunter eine Liste frei erfundener Tourdaten. Seit zwei Jahren hatte ich – ex-blond – kein Schlagzeug mehr gespielt.
    Die Motorhaube war nach all den Stunden in der Sonne zu heiß, um sich draufzusetzen, und so standen wir einfach da, während sich um uns der Staub legte und das Panorama der steinigen Einöde offenbarte.
    »Hier also«, flüsterte ich und bemerkte, dass ich genau auf einer Asphaltkante angehalten hatte. Irgendwann war die Straße vor uns auf einer Länge von mehreren Hundert Metern erneuert worden.
    Rechts und links erstreckte sich die Wüste in festgebackenen Bodenwellen aus Sand und Fels bis zu den Bergen am Horizont. Vertrocknetes Gras und braune Büsche waren die einzige Vegetation weit und breit. Ein schiefer Telefonmast ohne

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