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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gibt es kaum Bibliotheken. Dafür haben sie Bücherkamele. Die Leute vom KNLS ziehen mit ihnen von Dorf zu Dorf, von einem Nomadenstamm zum nächsten und versuchen, die Menschen zum Lesen zu bringen. Ein Viertel der Bevölkerung sind Analphabeten, und der KNLS versucht, das zu ändern. Jedes Kamel trägt zwei Kisten voller Bücher. Sie besuchen diese winzigen Dorfschulen, in denen den Kindern nur das Allernötigste beigebracht wird – denen, die Glück haben. Viele wachsen ganz ohne Schulbildung auf. Die meisten Bücher, die sie dort verteilen, sind Spenden aus dem Ausland, fast alle auf Englisch, weil das die zweite Landessprache ist. Ein paar sind auch auf Kisuaheli, aber nicht viele. In den Schulen veranstaltet der KNLS Lesestunden, dabei werden die Bücher verteilt und am Ende wieder eingesammelt.«
    »Und so eine Tour hast du mitgemacht?«, fragte Tyler.
    »Mehrere. Aber nicht so viele, wie ich ursprünglich wollte.«
    »Hör mal, du musst das nicht –«
    »Doch«, unterbrach ich ihn, »das ist schon okay. Ich erzähl’s dir, wenn du es hören willst. Im Radio läuft eh nichts Interessanteres.«
    Ich rückte mich im Sitz zurecht und streckte meine Arme und Beine. Meine Afrika-Skala stand auf drei mit einer Tendenz zur vier. Früher hatte ich mich vor Zittern kaum halten können, wenn man mich dazu gezwungen hatte, über das alles zu sprechen.
    »Es war meine vierte Tour. Ich war gerade erst ein paar Wochen da, und wir waren immer mehrere Tage unterwegs, weil die Dörfer mit den Schulen der Nomaden so weit draußen liegen. Nichts als Sand und Fels und braunes Buschgras. Der Mann vom KNLS, mit dem ich unterwegs war, hieß Khalif. Er war schon länger dabei, ein paar Jahre, und er kannte die Gegend, weil er selbst bei den Nomaden aufgewachsen war. Mit ihm bist du sicher, sagten sie mir immer wieder, obwohl ich nie danach gefragt hatte. Hätte ich Sicherheit haben wollen, dann wäre ich zu Hause in Wales geblieben. Jedenfalls war Khalif ein netter Kerl. Er redete nicht viel, aber das war mir ganz recht, und wenn er etwas sagte, dann hatte es Hand und Fuß. Manchmal hat er mir kleine Vorträge gehalten über das Land oder eine Pflanze oder die Tiere der Savanne. Aber die meiste Zeit über ging er einfach nur vornweg, hielt das Kamel mit den Bücherkisten am Zügel und sah hin und wieder über die Schulter zurück, ob ich noch da war und in keinen Termitenhaufen trat.«
    »Erzähl ihm von dem Kamel«, bat Emma.
    Ich musste lächeln. »Sein Name war Hemingway. Es roch nicht besonders gut. Meistens liefen wir zu Fuß neben ihm her, aber manchmal bestand Khalif darauf, dass ich auf dem Vieh ritt. Dann saß ich da oben zwischen den Kisten und kämpfte um mein Leben. Hemingway war auch nicht allzu angetan von mir, glaube ich, und einmal hat er mich ziemlich übel abgeworfen.«
    »Ich mag Kamele«, sagte Emma. »Ich hatte mal eins aus Stoff. Es hatte nur ein Auge.«
    »Nachts schliefen wir in einem kleinen Zelt, und Khalif war ein echter Gentleman. Kein falscher Blick, schon gar kein Anfassen oder so was. Ich hab ihn wirklich gemocht. Später, als er tot war, hat es das viel schwieriger gemacht. Da hab ich mir gewünscht, ich hätte ihn gehasst, damit es nicht so wehtat, ihn … so daliegen zu sehen.«
    Meine Augen suchten einen Punkt weit voraus auf der Straße. Langsam atmen. Nicht die Kontrolle verlieren. Du kannst das. Deine Schwester ist die Königin der Vernunft und du hast die gleichen Gene.
    »Am dritten Tag der Tour wurde Khalif merkwürdig. Wir hatten am frühen Morgen ein Dorf verlassen und waren schon ein paar Stunden unterwegs. Mir fiel auf, dass er sich immer wieder umschaute und noch wortkarger war als sonst. Schließlich sagte er, dass ein Löwenrudel unsere Witterung aufgenommen hätte. Das sei nicht schlimm, wahrscheinlich seien sie satt und beobachteten uns nur. Spätestens wenn wir in einer Stunde das nächste Dorf erreichten, würden sie uns in Ruhe lassen, weil sie größeren Gruppen von Menschen aus dem Weg gingen. Ich dachte, okay, er wird schon wissen, wovon er spricht. Ein paar Minuten später packte er seine Pistole aus – zum ersten Mal, während ich dabei war –, und da fing ich an, mir wirklich Sorgen zu machen. Er bestand darauf, dass ich auf das Kamel stieg. Kurz darauf griffen sie uns an, vier Löwinnen und ein Löwe. Alles ging wahnsinnig schnell. Khalif schrie, Hemingway ebenfalls, dann schoss er ein paarmal und das Kamel ging mit mir durch. Dreihundert oder vierhundert Meter

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