Phantasmen (German Edition)
wir immer noch umdrehen.«
»Wir werden aufpassen müssen«, sagte Tyler, »nicht nur wegen der Geister.«
»Ich weiß.« Ich schaute nach hinten zu Emma. »Einverstanden?«
Sie nickte.
Tyler ließ den Motor an.
27.
Wir fuhren durch das rotgoldene Licht der aufgehenden Sonne. Ihre Strahlen brachen sich in der Windschutzscheibe und tanzten als Lichtpunkte vor meinen Augen. Während draußen das Ocker der Wüste vorüberzog, ließ das monotone Surren des Motors meine Abwehr gegen die Müdigkeit schwinden.
Irgendwann schlief ich ein.
Mit dem Schlaf kam ein Traum von Afrika.
Ich lag auf dem Rücken, tief in der flirrenden Steppe. Starrte in den weiß-blauen Himmel hinauf, sah den Kondensstreifen eines Flugzeugs. Der Anblick unterstrich nur, wie fernab aller Zivilisation sich dieser Ort befand. Keine Dörfer in der Nähe, keine Stationen der Entwicklungshelfer, nichts außer ausgetrocknetem Boden, braunem Gras und vereinzelten Bäumen mit weitgefächerten Kronen. Die Hochburgen der Touristen am Indischen Ozean waren eine Welt entfernt, hier draußen gab es nicht einmal ein Wasserloch.
Ich kannte diese Landschaft, sie war zu einem Teil von mir geworden und ließ mich nicht mehr los. In Träumen wie diesem kehrte ich zurück und wusste dabei stets, dass ich träumte. Afrika klammerte sich an mich, saß mir im Nacken wie ein Gespenst, das ich nie würde abschütteln können.
Heißer Wind strich über die Ebene. Jeder Atemzug brannte in meiner Kehle, ich war allein und hatte Durst und Hunger. Ich konnte den Wind spüren, aber nicht hören. Wenn mich die Träume in meine Erinnerung entführten, herrschte meist Stille, in die sich allmählich ein rhythmisches Ticken mischte. Ich hatte es schon viele Male gehört, wenn ich hierher zurückgekehrt war.
Ich setzte mich auf und hielt Ausschau nach einer Standuhr zwischen den Bäumen. Einer dieser dunklen Großvateruhren mit goldenem Pendel und schwarzen Zeigern, die sich wie Arme einer Höhlenmalerei über römische Ziffern bewegten.
Aber ich entdeckte nichts als borstiges Steppengras und Savannenbäume. Das Ticken existierte nur in meinem Kopf. Manchmal schien die Umgebung an den Grenzen meines Blickfelds zu zersplittern, aber wenn ich hinsah, war alles wieder wie zuvor.
Der Himmel war jetzt leer, die Fährte des Flugzeugs verblasst. Keine Wolke weit und breit, nur gleißendes Sonnenlicht. Schweiß lief mir in die Augen. Als ich ihn fortwischte und für einen Moment die Lider schloss, spürte ich wieder das Wummern des Motors, das Polster des Sitzes, und ich wusste, dass mein Körper schlief. Nur mein Geist war wach und unterwegs in der Vergangenheit.
Langsam öffnete ich die Augen, schaute über die Schulter in die Savanne und erkannte einen verschwommenen Punkt, der sich näherte. Anfangs schien er kaum größer zu werden. Dann wuchs er schneller und formte sich zu einer majestätischen Gestalt.
Ein Löwe, ein König unter seinesgleichen. Eine Kreatur von hypnotischer Anmut.
Er ließ sich neben mir nieder und blickte starr geradeaus. Ich betrachtete ihn im Profil, die gewaltigen Kiefer, das frische Blut an seinen Lefzen. Er hatte gefressen, gerade eben erst. Er roch nach totem Menschen.
Wir blieben sitzen, Seite an Seite, und warteten auf Regen.
28.
Ich erwachte mit Schüttelfrost. Es fühlte sich gut an, die Augen geschlossen zu halten, und so ließ ich sie noch eine Weile zu und horchte auf den Nachhall des Tickens. Ich hörte es noch immer, weit entfernt, und es verklang erst ganz allmählich.
Emma sprach mit Tyler.
»Gibt es etwas, das du unbedingt noch tun willst, bevor alles zu Ende ist?«
»Flavie wiedersehen«, sagte er, ohne zu zögern. Als sie nichts erwiderte, schien ihm klar zu werden, dass sie auf seine Gegenfrage wartete. Er tat ihr den Gefallen: »Und du?«
»Rain das Gefühl geben, dass sie wieder eine Familie hat. Dass ich diese Familie bin, so gut ich es eben kann.«
Ich wäre am liebsten nach hinten geklettert und hätte sie umarmt. Aber ich ließ die Augen geschlossen und gab vor, noch zu schlafen.
»Rain wünscht es sich so sehr«, sagte Emma.
»Was ist mit dir?«, fragte er. »Was wünschst du dir?«
»Nichts. Wünschen ist irrational. Wenn ich etwas nicht selbst tun kann, muss ich andere dazu bewegen, es zu tun.«
»Ich hab das Wünschen auch schon vor langer Zeit drangegeben«, sagte Tyler.
Sie schwiegen eine Weile, während der Wagen durch die Wüste holperte. Der Untergrund war rauer geworden. Hatte Tyler die Straße
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