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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verlernt, mich für irgendwas zu interessieren. Von einem Tag auf den anderen war es, als hätte jedes Essen seinen Geschmack verloren, Musik war nur noch Lärm, Gespräche waren leeres Gerede. Die Freundlichkeit anderer Menschen war mir unangenehm und hat mich aggressiv gemacht. Mit dieser Fahrt quer durch Europa wollte ich keine Wunden heilen, sondern nur lernen, wieder Interesse an irgendwas zu finden. Mich um etwas zu kümmern, etwas an mich ranzulassen.«
    Emma stützte die Ellbogen auf die Lehnen unserer Sitze, verschränkte die Hände im Spalt dazwischen und legte ihr Kinn darauf. Ihre Miene verriet angestrengte Konzentration, als versuchte sie, jedes einzelne Wort nachzuvollziehen. Wie eine Wissenschaftlerin, die einen Körper bis auf die letzte Faser zerteilt, um alle Funktionen zu erforschen. Die Gefühle, von denen Tyler sprach, mussten ihr fremd sein, aber sie sezierte sie Schicht für Schicht.
    Ich hingegen verstand ihn. Ich wusste, wie es war, sich fremd zu fühlen – erst im Haus meiner Großeltern und auf einer Schule, die ich hasste, dann in Afrika, schließlich in meinem eigenen verdammten Schädel. Ich hatte meine Eltern verloren, lange bevor sie gestorben waren, weil sie sich mehr für hungernde Kinder am Kongo interessiert hatten als für Emma und mich. Und als ich selbst in Afrika fast umgekommen wäre und wieder zurück in England war, da hatte es eine Weile lang ausgesehen, als wäre mir auch Emma weggenommen worden, der einzige Mensch, der mir noch irgendetwas bedeutete.
    »Und dann wurde es ganz langsam besser«, fuhr Tyler fort, den Blick auf das verstaubte Straßenschild an der Gabelung gerichtet. »Es ging los mit den Landschaften, das war in Kroatien. Ich fing an, wieder schöne Dinge wahrzunehmen, Berge und Felsen und die Aussicht von einer Klippe über das Meer. Wolken und Wind, sogar Regen, der mir auf einer Passstraße ins Gesicht klatschte. Ich erwischte mich dabei, dass ich lächelte, einfach so, unterwegs oder auch nachts in einer Werkstatt, in der es nach Schmieröl und Gummi roch. Nur mit Menschen hab ich mich weiterhin schwergetan, ich bin den meisten einfach aus dem Weg gegangen, erst recht, wenn sie versucht haben, Freundschaft zu schließen.« Er verstummte für einen Moment, dann setzte er wieder an: »Gleich nach Flavies Absturz hat mir jemand geraten, ich solle ganz bewusst nur Kontakt zu jenen Leuten halten, die ich weiterhin in meinem Leben haben wollte. Und als ich darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass das auf niemanden mehr zutraf. Auf keinen Einzigen. Ich wollte nur noch weg von allen, und im Grunde hat sich daran bis gestern wenig geändert.«
    Ich sah aus dem Augenwinkel, dass Emma auf ihrer Unterlippe kaute. Und dann schmeckte ich Blut, weil ich, ohne es zu merken, das Gleiche getan hatte.
    »Ich sollte einfach zum blauen Haus fahren«, sagte Tyler, »meine Maschine suchen und damit verschwinden. Die Sache mit den Menschen dürfte sich ohnehin bald erledigt haben.«
    »Manche Probleme erledigen sich eben von selbst«, sagte ich.
    Er wandte mir den Kopf zu, schenkte aber auch Emma ein kurzes Lächeln. »Mein Problem ist, dass ihr beiden mir in die Quere gekommen seid. Und ich nicht will, dass euch etwas zustößt.«
    »Wir kommen schon klar.« Ich sagte das, weil ich es so meinte, und das hatte nichts mit den Waffen zu tun, die wir jetzt besaßen.
    »Ich weiß, dass ihr ohne mich zurechtkommt«, sagte Tyler. »Und es kann sein, dass wir zu dritt weiterfahren und trotzdem bald tot sind. Ich glaube, da draußen gibt es jetzt keine Garantien mehr. Aber wenn wir irgendwas tun können, um unsere Chancen zu verbessern, dann sollten wir das versuchen. Wir drei können einander vertrauen, glaube ich. Jedenfalls hat es in den letzten paar Stunden ganz danach ausgesehen. Das ist mehr, als wir über irgendeinen anderen behaupten können, oder?«
    Mein Herz schlug ein wenig schneller. Auf diese Art, die sich gut anfühlt, ohne dass man so recht versteht, warum.
    Damit niemand das Lächeln in meinen Augen bemerkte, blickte ich durch die Windschutzscheibe auf die Straßengabelung. »Am Stadtrand dürften wir größere Chancen haben, was zu essen zu finden, als hier draußen in der Einöde.« Auf dem Schild stand über dem Pfeil nach links Almería . »Lasst uns dort hinfahren, und dann sehen wir weiter. Es gibt da einen Flughafen. Wir werden schon von weitem sehen können, ob noch Maschinen starten. Und wenn es keinen Weg an den Geistern vorbei gibt, können

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