Phantasmen (German Edition)
verlassen, während ich schlief?
Gerade wollte ich mich rühren, als er fragte: »Was ist eigentlich los mit Rain? Ich meine, was ist ihr zugestoßen?« Er hatte die Stimme ein wenig gesenkt. Aber glaubte er wirklich, dass ich ihn nicht hören würde?
»Afrika ist ihr zugestoßen«, sagte Emma.
»Was hatte sie da zu suchen?«
»Unsere Eltern waren Entwicklungshelfer. Sie haben mehr Zeit dort verbracht als mit uns. Rain hatte deswegen oft Streit mit ihnen. Mir war es egal, aber sie hat darunter gelitten.«
Ich hatte noch nie erlebt, dass Emma über diese Geschichte sprach. Sie hatte mir immer nur zugehört, selbst aber kaum etwas dazu gesagt. Als unsere Großeltern mir vorgeworfen hatten, es sei rücksichtslos und eigennützig gewesen, einfach fortzugehen, und dass ich mich nie für meine Schwester interessiert hätte, da hatte mich das hart getroffen.
Vielleicht auch, weil es stimmte: Mein Aufbruch nach Afrika, halb Selbstfindungstrip, halb Spurensuche auf der Fährte von Mum und Dad, hatte nur mit mir selbst zu tun gehabt. Es war egoistisch gewesen, aber meine Großeltern hatten nie verstanden, dass sie selbst ein Teil des Problems waren. Emma zurückzulassen war schlimm genug, doch es grenzte an Verrat, dass ich sie bei ihnen gelassen hatte. Was die Konsequenzen waren, begriff ich zu spät. Als ich zurückkehrte, körperlich und seelisch am Ende, da untersagten sie mir jeden Kontakt zu Emma. So als wäre Unglück ansteckend. Wenigstens hatten sie nicht verhindern können, dass mir mein Teil der Lebensversicherungen ausgezahlt wurde. Ich nahm mir mit dem Geld einen Anwalt. Es gab unschöne Briefe, Drohungen und Beleidigungen, schließlich ein zynisches Schlichtungsgespräch und Diskussionen mit dem Jugendamt. Ich will nur meine Schwester, sagte ich wieder und wieder. Sie soll bei mir aufwachsen, ich bin volljährig, wir schaffen das.
Aber meine Großmutter konnte das nicht hinnehmen. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie wohl einen Schlägertrupp angeheuert, um mir die Beine brechen zu lassen. Stattdessen tat sie etwas viel Grausameres: Sie zwang mich, vor jedem Anwalt, jedem Jugendbetreuer, jeder Schiedskommission meine Geschichte zu erzählen. Immer wieder Afrika, jede Erinnerung, jedes Detail. Und sie ließ keinen Zweifel daran, dass in ihren Augen ich die Schuldige gewesen war. Mein Leichtsinn, meine Risikobereitschaft, meine Verantwortungslosigkeit.
Der Tod dieses armen Mannes irgendwo im Busch? Ganz allein die Schuld dieses Mädchens, das Sie hier vor sich sehen! Und so jemand soll meine Enkeltochter erziehen? Jemand, der nicht mal auf sich selbst achtgeben kann, soll mit Emmas Krankheit umgehen? Das Kind formen, bilden, ihm ein normales Leben ermöglichen, damit es eines Tages leben kann wie Sie und ich?
Am Ende hatte sie den Bogen überspannt. Im Jugendamt sitzen nicht nur Idioten. Ein paar, ja sicher, aber einige durchschauten, was sie trieb. Und ganz allmählich begann sich die Waage in meine Richtung zu neigen. Emma wurde befragt und sagte mehr Nettes über mich, als ich hätte erfinden können. Danach gratulierte mir mein Anwalt wie nach einer Millionenklage. Aber das war kein Kampf David gegen Goliath gewesen – ich war einfach nur im Recht. Und zuletzt sah das auch die Richterin so und das Jugendamt und die verdammte Nachbarschaft. Emma packte ihre Sachen und zog zu mir, ohne viel Tamtam.
Aber sie hatte nie darüber gesprochen, was sie bei dieser ganzen Sache empfunden hatte. Umso erstaunter war ich, dass sie es ausgerechnet jetzt versuchte, vor einem Fremden wie Tyler.
»Rain hat viel für mich getan«, sagte sie leise. »Und ich werde ihr mein Leben lang dafür dankbar sein.«
»Was genau ist in Afrika geschehen?«, fragte er.
Hier hätte ich übernehmen müssen, aber ich hatte einen Kloß im Hals. Tränen brannten in meinen Augen, und es war viel leichter, sie zu verbergen, solange ich weiterhin halb zusammengerollt im Beifahrersitz kauerte, das Gesicht zum Fenster gewandt.
»Sie ist nach Kenia geflogen«, sagte Emma. »Erst nach Nairobi und dann weiter hinauf in den Norden. Unsere Eltern sind dort öfter gewesen, vor allem in den letzten Jahren. Rain wollte wissen, was sie in diesem Land und in diesen Menschen gesehen hatten. Aber sie wollte keine Kinder füttern, sondern hat sich einer Organisation namens KNLS angeschlossen. Das bedeutet –«
»Kenya National Library Service«, sagte ich mit einem Seufzen und drehte mich um. Tyler blinzelte lächelnd in die rote Sonne. »In Kenia
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