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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vorschein. Die Geister schadeten nichts und niemandem.
    Wir waren noch ein gutes Stück entfernt, halb geblendet von all dem Gleißen, als der Amerikaner stehen blieb.
    Ich ahnte, was er empfand. Wen auch immer er inmitten des Totenlichts zu finden hoffte, er oder sie hatte ihm genug bedeutet, um eine lange Reise in Kauf zu nehmen. Das war etwas anderes, als den Geist eines Fremden an der Straßenecke zu sehen. Diese Menschen waren Opfer einer Katastrophe geworden, die noch immer nicht aufgeklärt war.
    Der Amerikaner trug jetzt einen dunklen Pullover und in der rechten Hand ein Buch. Womöglich eine Bibel, denn die Anhänger des Liebenden Lichts waren Christen, zumindest im weitesten Sinne. Er stand etwa zwei Meter von den vorderen Geistern entfernt, Männer und Frauen, die alle zum westlichen Horizont blickten und ihm den Rücken zuwandten. Mit bebenden Fingern öffnete er das Buch an einer Stelle in der Mitte, überflog einige Zeilen und presste es sich dann mit den aufgeschlagenen Seiten vor die Brust. Er neigte einmal kurz den Kopf wie bei einer angedeuteten Verbeugung, bewegte die Lippen, ohne dass auch nur ein Laut bei uns ankam, und trat entschlossen unter die Geister. Schon nach den ersten Schritten war er im geballten Totenlicht nur noch als Silhouette zu erkennen.
    »Ich möchte bitte erst einmal um sie herumgehen«, sagte Emma.
    Im Moment war mir alles recht, was die Begegnung mit den Geistern meiner Eltern hinauszögerte. Weglaufen würden sie uns bestimmt nicht.
    Die Toten des Fluges IB259 sahen aus wie Statuen aus Glas, die man in schimmerndes Quecksilber getaucht hatte. Während Emma und ich sie umrundeten, schien sich die Geistermenge zu verschieben, obwohl sich keine der Erscheinungen bewegte. Die optische Täuschung war eine Folge der Helligkeit, die von ihnen ausging; durch die transparenten Körper wurde sie vielfach gebrochen und überlagert. Alle Leuchtreklamen von Las Vegas hätten kein kälteres, kein unangenehmeres Licht abgeben können.
    Ich sah zu Emma hinüber, unsicher, ob das Totenlicht bei ihr das gleiche Schaudern hervorrief wie bei mir. Ihr hochkonzentrierter Blick wanderte über die Geister, und da erkannte ich, dass sie die Erscheinungen zählte. Wie sie das fertigbrachte, obwohl doch das Zentrum zu einem einzigen weißen Leuchten verschmolz, war mir ein Rätsel.
    Als wir unsere Runde am Ausgangspunkt beendeten, kaute sie auf ihrer Unterlippe und sagte schließlich: »Zweiundachtzig.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Es sind zweiundachtzig, glaub mir.«
    »Du hast dich verzählt. Kein Mensch kann bei all dem Licht –«
    »Zwölf fehlen.«
    Mir ging gerade zu viel durch den Kopf, als dass mich das hätte schockieren können. Sie mochte es noch so oft abstreiten, aber ich war sicher, dass sie nie und nimmer jeden einzelnen Geist erkennen konnte.
    »Ich sehe sie alle ganz deutlich«, sagte Emma. »Und es sind zu wenige.«
    Ich beschloss, ihren Einwand fürs Erste zu ignorieren. »Was ist mit Mum und Dad? Hast du sie gesehen?«
    Emma nickte. »Sie sind hier.«
    »Okay.« Ich seufzte leise. »Dann lass uns zu ihnen gehen.« Dass sie die beiden ausfindig gemacht hatte, wunderte mich nicht. Ich war so froh, nicht in all die leblosen Gesichter blicken zu müssen, dass ich meine Zweifel an Emmas Wahrnehmung auf Eis legte.
    Zwölf fehlen.
    Es hatte keine Überlebenden gegeben. Sämtliche Berichte hatten betont, dass alle vierundneunzig Menschen an Bord beim Aufschlag ums Leben gekommen waren. Keine Verletzten, die erst später gestorben waren. Keine Ausnahmen. Damals hatte ich die Namen aller Toten gelesen wie eine makabere Litanei, und ich hatte die Zahl vor jedem einzelnen gesehen. Die Letzte auf der Liste war eine Stewardess gewesen, und vor ihr hatte die Nummer vierundneunzig gestanden.
    Emma führte mich erneut an der Menge vorüber, bis wir das vordere Drittel erreichten. Ich konnte den Amerikaner jetzt als dunklen Fleck inmitten des Totenlichts erkennen und fragte mich, ob er so gedrungen wirkte, weil er auf die Knie gefallen war. Womöglich betete er.
    Abermals kroch eine Gänsehaut über meinen Rücken und ein ganz und gar irrationaler Gedanke schoss mir durch den Kopf. »Er ist doch nicht bei ihnen , oder?«
    Emma sah aus, als hätte auch sie das für einen Augenblick in Erwägung gezogen. »Nein, nur ganz in ihrer Nähe. Sieh mal, das da drüben – das sind sie.«
    Mein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm in die Wand aus blendendem Licht. Es dauerte mehrere Sekunden, aber dann

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