Phantom
geben.«
»Ich werde sie auf Fingerabdrücke untersuchen lassen, dann können Sie sie haben. Die Spurensicherung sollte sicherheitshalber auch das Blatt Papier vom Bett mitnehmen«, wandte er sich an Lucero.
»Vielleicht hat sie ja ihren Abschiedsbrief mit unsichtbarer Tinte geschrieben«, spöttelte der.
»Kommen Sie mit!« forderte Marino mich auf. »Ich möchte Ihnen ein paar Sachen zeigen.«
Er führte mich ins Wohnzimmer, wo in einer Ecke ein künstlicher Weihnachtsbaum stand, dessen Äste sich unter der Last des viel zu üppigen Schmucks bogen, was ihm ein trauriges Aussehen verlieh. Unter dem Baum standen Schachteln mit Konfekt, eine Flasche Schaumbad, eine Dose aromatisierter Tee und ein Einhorn aus Keramik mit leuchtendblauen Augen und einem vergoldeten Horn. Die Fasern, die ich unter Jennifer Deightons Fingernägeln und an ihren Socken gefunden hatte, stammten offenbar von dem hochflorigen goldfarbenen Wollteppichboden.
Marino zog eine kleine Taschenlampe heraus und bückte sich. »Schauen Sie!«
Ich gesellte mich zu ihm. Der Lichtstrahl fiel auf Metallflitter und ein Stückchen dünne Goldkordel.
»Ist das nicht komisch, sie hatte ihre Weihnachtsgeschenke schon aufgemacht. Das Einwickelpapier und die Grußkarten verbrannte sie in dem offenen Kamin da drüben: er ist voller Papierasche, und ein paar Folienreste sind nicht verbrannt. Die Frau von gegenüber sagt, sie habe gestern abend Rauch aus dem Schornstein steigen sehen. Sie hat übrigens heute die Polizei alarmiert. Ich will nachher rüber und mit ihr reden.«
»Dann fragen Sie sie doch bitte auch, ob sie etwas über etwaige Krankheiten weiß, ob Jennifer Deighton in psychiatrischer Behandlung war und so weiter. Ich wüßte auch gerne den Namen ihres Hausarztes.«
»Sie können ja mitkommen und selbst fragen.«
Als ich mich weiter im Zimmer umsah, fiel mein Blick auf vier quadratische kleine Druckstellen im Teppichboden, in der Mitte des Raumes.
»Die habe ich auch bemerkt«, sagte Marino, als ich ihn darauf hinwies. »Sieht so aus, als habe jemand einen Stuhl aus dem Eßzimmer hierhergebracht: die Stühle dort haben Beine mit quadratischer Grundfläche.«
»Man sollte auch den Videorecorder überprüfen«, dachte ich laut, als mein Blick auf das Gerät fiel. »Vielleicht hat sie etwas aufgenommen, das uns Einblick in ihre Interessen gibt.«
»Eine gute Idee.«
Wir verließen den Wohnraum und durchquerten das kleine Eßzimmer mit dem Eichentisch und den vier hochlehnigen Stühlen. Der Teppich auf dem Parkettboden war entweder neu oder wenig beansprucht.
»Es scheint, als habe ihr Leben sich hauptsächlich hier abgespielt«, sagte Marino und stieß die Tür zu einem kleinen Büroraum auf. Mein erster Blick fiel auf das Faxgerät, das ich daraufhin sofort untersuchte: Es war angeschlossen, aber ausgeschaltet. Ich sah mich weiter um: ein Personal Computer, eine Frankiermaschine, Stapel von Formularen und Kuverts auf einem Tisch und dem Schreibtisch, Enzyklopädien, Lexika, Bücher über Parapsychologie, Astrologie, Tierkreis zeichen sowie östliche und westliche Religionen, darunterverschiedene Übersetzungen der Bibel, ferner Dutzende beschrifteter Aktenordner in den Regalen.
Ich nahm eines der Formulare von dem Stapel neben der Frankiermaschine: ein Bestellschein. Für dreihundert Dollar pro Jahr durfte man einmal täglich anrufen, und Jennifer Deighton nahm sich bis zu drei Minuten Zeit, um einem das Tageshoroskop zu stellen, »basierend auf persönlichen Details, einschließlich der Planetenkonstellation zum Zeitpunkt der Geburt«. Für zusätzliche zweihundert Dollar jährlich lieferte sie außerdem eine »wöchentliche Prognose«. Nach Zahlung der erforderlichen Summe erhielt der Kunde eine Karte mit einem Identifikations-Code, die galt, solange der jährliche Beitrag entrichtet wurde.
»Was für ein Mumpitz«, sagte Marino, der mitgelesen hatte. »Wie es aussieht, lebte sie allein.«
»Offenbar. Eine alleinstehende Frau, die einen solchen Beruf ausübt, lebt ganz schön gefährlich: In diesem Metier hat man es zweifellos mit noch mehr Verrückten zu tun als gewöhnlich.«
»Haben Sie schon nachgeschaut, wie viele Telefonanschlüsse es im Haus gibt, Marino?«
»Nein. Warum fragen Sie?«
Ich erzählte ihm von den merkwürdigen Anrufen, bei denen immer aufgelegt wurde. »Ich möchte wissen, ob Fax und Telefon denselben Anschluß haben. Wenn das zutrifft, würde dies den Ton erklären, den ich gehört habe, nachdem ich
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