Phantom
gern«, fuhr sie fort. »Und in der Weihnachtszeit backe ich viel. Ich backe Zuckerkuchen und schenke sie den Nachbarn. Gestern wollte ich Jenny einen bringen. Ich rufe immer erst an: Es ist schwer zu sagen, ob jemand zu Hause ist, vor allem bei Leuten, die ihren Wagen in die Garage fahren, und wenn man den Kuchen vor die Haustür stellt, machen sich die Katzen darüber her. Also rief ich bei ihr an, hatte aber bloß diese blöde Maschine am Apparat. Ich versuchte es immer wieder, aber sie rief nicht zurück.«
»Wissen Sie, ob sie gesundheitliche Probleme hatte?« warf ich ein.
»Zuviel Cholesterin. Weit über zweihundert, erzählte sie mir mal. Und hohen Blutdruck. Der lag bei ihr in der Familie, sagte sie.«
»Kennen Sie den Namen ihres Hausarztes?«
»Ich glaube nicht, daß sei einen hatte. Jenny schwor auf Naturmethoden. Wenn sie sich schlecht fühlte, meditierte sie.«
»Sie wissen ja allerhand über sie«, sagte Marino.
Mrs. Clary zupfte an ihrem Rock und knetete ihre Hände, wie hyperaktive Kinder es tun. »Ich bin den ganzen Tag zu Hause , außer wenn ich zum Einkaufen fahre.« Sie warf einen Blic k zu ihrem Mann, der wieder auf den Bildschirm starrte.
»Manchmal brachte ich ihr etwas Selbstgekochtes rüber.«
»War sie ein geselliger Mensch?« wollte Marino wissen. »Hatte sie oft Besuch?«
»Sie machte ihre Geschäfte hauptsächlich übers Telefon.
Aber manchmal sah ich auch Leute zu ihr kommen.«
»Auch jemanden, den Sie kannten?«
»Nein.«
»Haben Sie gestern abend gesehen, daß sie Besuch hatte?«
»Nein. Als ich nach der Post schauen ging, stand kein Auto vor dem Haus.«
Jimmy Clary war eingeschlafen. Speichel rann aus seinem linken Mundwinkel.
»Sie sprachen von Jennifer Deightons ›Geschäften‹. Wissen Sie, worum es sich dabei handelte?« fragte ich.
»Ja: Sie sagte Leuten die Zukunft voraus. Viele in unserer Straße glaubten, daß sie eine Hexe war.«
»Sie auch?«
»Ich weiß nicht recht.«
»Und wie kamen die Leute auf diese Idee?«
»Zwei Blocks weiter ist eine Methodistenkirche; man kann sie von hier aus sehen. Der Turm ist nachts angestrahlt schon seit die Kirche vor drei Jahren fertig wurde.«
Marino nickte. »Ich habe sie auf der Herfahrt gesehen.« »Aber was hat sie mit…«
»Jenny«, unterbrach sie ihn, »zog Anfang September hierher – und seitdem macht sie das.« »Wer macht was?« »Die Kirchenbeleuchtung: Sie geht an und aus. In einem Augenblick ist sie an, und wenn man dann wieder hinschaut, ist sie plötzlich aus. Kurz darauf brennt sie wieder, als wäre sie nie ausgewesen. Ich dachte, es steckte vielleicht irgendein System dahinter, und schaute auf die Uhr – aber das brachte nichts: Das Licht war eine Minute lang an, dann zwei Minuten aus, und dann wieder drei Minuten lang an…«
»Was hat die Kirchenbeleuchtung mit Jennifer Deighton zu tun?« beendete Marino seine Frage.
»Ich sagte es ja schon: Es fing kurz nachdem sie hergezogen war an, ein paar Wochen vor Jimmys Schlaganfall. Ich weiß es noch wie heute. Es war ein kühler Abend, und er machte Feuer im Kamin. Ich war in der Küche beim Abwaschen. Der Kirchturm war wie immer beleuchtet. Jimmy kam rein, um sich einen Drink zu holen, und ich sagte zu ihm, daß in der Bibel steht, man soll sich am Heiligen Geist berauschen und nicht am Wein. Er antwortete: ›Ich trinke keinen Wein, ich trinke Bourbon, und in der Bibel steht nirgends was gegen Bourbon.‹ Und während er noch dastand, ging die Kirchenbeleuchtung aus. Es war, als hätte die Kirche sich in Luft aufgelöst. Ich sagte: ›Da hast du’s, das ist ein Zeichen! Jetzt siehst du, was Gott von dir und deinem Bourbon hält.‹ Er murmelte, daß ich spinne, aber er rührte nie mehr einen Tropfen an. Jeden Abend stand er in der Küche und schaute durch das Fenster über dem Spülbecken zur Kirche rüber. Das Licht ging an… und aus… und an… Ich ließ ihn in dem Glauben, daß das Gottes Werk ist, mir war jedes Mittel recht, um ihn vom Trinken abzuhalten. Bevor Miss Deighton gegenüber einzog, hat das Licht das nie gemacht.«
»Wann haben Sie es zum letztenmal beobachtet?« fragte ich.
»Gestern. Heute habe ich noch nicht darauf geachtet.«
»Sie meinen also, daß Miss Deighton die Kirchenbeleuchtung beeinflußt hat«, resümierte Marino milde.
»Nicht nur ich.«
Ihr Mann hatte angefangen zu schnarchen, wobei er zwischendurch beängstigend röchelte, was seine Frau jedoch nicht beunruhigte.
»Denken Sie vielleicht auch, daß sie mit dem
Weitere Kostenlose Bücher