Phantom
fragte sie, als sie um halb zwei aus meinem Schlafzimmer auftauchte. Sie trug einen meiner Aufwärmanzüge.
»Er steht dir gut. Hast du sonst nichts Brauchbares gefunden?«
»Doch, schon. Aber die meisten Sachen sind mir zu elegant. Kostüme in Nachtblau und Schwarz, graue Seide mit Nadelstreifen, brauner Kaschmir und strenge weiße Blusen sind nicht mein Fall. Du mußt mindestens zwanzig weiße Blusen haben – und ebensoviel Krawatten. Du solltest übrigens kein Braun tragen. Ich habe fast nichts Rotes entdeckt; dabei würde das zu deinen blauen Augen und den graublonden Haaren besonders gut passen.«
»Ich bin aschblond«, korrigierte ich sie.
»Asche ist grau oder weiß – schau doch in den Kamin! Wir haben nicht die gleiche Schuhgröße – aber ich würde deine italienischen Modelle sowieso nicht tragen. Wie kommst du denn zu der coolen schwarzen Lederjacke? Bist du in deiner frühen Jugend eine Motorradbraut gewesen?«
»Sie ist aus Lammleder, und du darfst sie dir gerne ausleihen.«
»Besitzt du Jeans?«
»Ja, für die Gartenarbeit.«
»Früher warst du nicht so konservativ.« Ein Blick von mir hielt sie davon ab, das Thema zu vertiefen. »Wenn es dir recht ist, fahre ich in deinen Fitneßclub. Ich brauche Bewegung.«
»Wenn du Tennis spielen möchtest, werde ich versuchen, dir Ted als Partner zu besorgen. Meine Schläger sind im linken Flurschrank. Ich habe mir gerade erst einen neuen gekauft; mit dem erreicht der Ball eine Geschwindigkeit von hundert Stundenmeilen.«
»Danke, aber das reizt mich nicht. Ich hänge mich lieber an die Sprossenwand oder laufe. Warum spielst du nicht mit Ted, dann könnten wir zusammen hinfahren?«
Pflichtschuldigst griff ich zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Westwood-Clubs: Ted war bis zehn Uhr abends ausgebucht. Ich erklärte Lucy den Weg und gab ihr meine Autoschlüssel. Als sie weg war, kehrte ich zu meiner Arbeit an den Kamin zurück – und schlief ein.
Als ich aufwachte, war das Feuer heruntergebrannt. Das tönerne Windspiel vor der Fenstertür klimperte leise. Große Schneeflocken sanken langsam zu Boden. Es war so still im Haus, daß ich die Uhr an der Wand ticken hörte. Kurz nach vier. Wo blieb Lucy? Hoffentlich käme sie bald – ich wollte noch Fisch fürs Abendessen besorgen. Vielleicht war sie schon auf dem Heimweg. Ich wählte die Nummer meines Autotelefons. Keine Antwort. Um halb fünf versuchte ich es noch einmal. Um fünf rief ich im Club an. Sie konnten sie nicht finden.
»Sind Sie sicher, daß sie nicht an der Sprossenwand ist oder im Umkleideraum… oder in die Dusche?«
»Ich habe sie viermal ausgerufen, Dr. Scarpetta«, sagte die junge Frau am Empfang. »Und ich bin selbst nachschauen gegangen. Ich werde noch mal einen Rundgang machen. Wenn ich sie finde, sage ich ihr, daß sie Sie sofort anrufen soll.«
Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke. »Wissen Sie, ob sie überhaupt angekommen ist? Es müßte so gegen zwei gewesen sein.«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich bin erst seit vier Uhr hier.«
Ich probierte wieder das Autotelefon. Nichts. Marino war weder zu Hause noch auf dem Revier. Um sechs stand ich in der Küche und starrte aus dem Fenster. Durch den dichten Schneevorhang schimmerte verschwommen das Licht der Straßenlaternen. Mein Herz klopfte bis zum Hals, während ich unruhig auf und ab ging und immer wieder meinen Autoanschluß anwählte. Um halb sieben hatte ich gerade beschlossen, eine Vermißtenmeldung zu machen, als das Telefon klingelte. Ich hetzte ins Arbeitszimmer, griff nach dem Hörer – und sah die fatale Nummer auf dem Display des Geräts, das die Anrufer identifizierte. Nach Waddells Hinrichtung hatten die Anrufe aufgehört, und ich hatte sie inzwischen völlig vergessen. Wie angewurzelt stand ich da und wartete darauf, daß wie üblich nach meinem Bandtext aufgelegt würde. Die Stimme traf mich wie ein Schlag.
»Tut mir leid, Ihnen den Abend zu verderben, Doc…«
Ich riß den Hörer von der Gabel, räusperte mich und fragte ungläubig: »Marino?«
»Jaa«, kam es gedehnt. »Sie werden gebraucht.«
4
»Wo sind Sie?« fragte ich, immer noch die Nummer auf dem Display anstarrend.
»Im East End. Wir haben eine Leiche hier, weiblich, weiß. Sieht auf den ersten Blick aus wie Selbstmord durch Abgase – der Wagen steht in der Garage, und ein Schlauch führt vom Auspuff ins Wageninnere –, aber es gibt da ein paar Ungereimtheiten. Und deshalb möchte ich, daß Sie herkommen.«
»Von
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